MazurekMassenentlassung und Sonderkündigungsschutz

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2024, 339 Seiten, kartoniert, € 99,90

CONRAD GREINER (WIEN)

Die zu besprechende Dissertation von Daniel Mazurek befasst sich mit einem Sonderproblem des Massenentlassungsrechts: dem Verhältnis von Massenkündigungsschutz zu besonderem Kündigungsschutz. Die angestellten Überlegungen ergehen zwar primär zur deutschen Rechtslage, lassen sich aber (zumindest teilweise) auch auf Österreich übertragen, weil das deutsche und das österreichische Massenkündigungsrecht durch die MassenentlassungsRL 98/59/EG weitgehend unionsrechtlich determiniert sind. Zudem ist das Verhältnis von Massenkündigungsschutz zu besonderem Kündigungsschutz in Österreich bisher wenig untersucht. Das Buch bietet daher auch Anlass, das Thema aus österreichischer Perspektive zu beleuchten.

1. Problemstellung

Gem § 45a Abs 4 AMFG bleiben die Verpflichtungen des AG nach § 105 ArbVG und „vergleichbaren anderen österreichischen Rechtsvorschriften“ vom Massenkündigungsschutz unberührt. AG müssen bei Massenkündigungen also auch den besonderen Kündigungsschutz beachten (vgl IA 137/A 14. GP 7). Die Anzeige nach § 45a AMFG an das Arbeitsmarktservice ersetzt nicht die behördliche/gerichtliche Zustimmung zur Kündigung (Löschnigg/Melzer-Azodanloo in Löschnigg [Hrsg], Die Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen und ihre Beschränkungen im internationalen Vergleich [2008] 209 [240]). Beabsichtigt der AG, einen AN mit besonderem Kündigungsschutz aus wirtschaftlichen Gründen zu kündigen, so ist zunächst die behördliche/gerichtliche Zustimmung zur Kündigung einzuholen. Nach Erteilung der Zustimmung muss der AG in einem zweiten Schritt prüfen, ob zum Zeitpunkt des beabsichtigten Kündigungsausspruchs die Schwellenwerte des § 45a Abs 1 AMFG erreicht werden. Ist das der Fall, so kann der AG den betroffenen AN nur wirksam kündigen, wenn er ihn zuvor in das Massenkündigungsverfahren (Konsultations- und Anzeigeverfahren) miteinbezogen hat.

Das Nebeneinander von Massenkündigungsschutz und besonderem Kündigungsschutz bereitet in der Rechtsanwendung Schwierigkeiten: Wie gesagt muss der AG eine behördliche/gerichtliche Zustimmung einholen, 350 bevor er einen AN mit besonderem Bestandschutz kündigt. Da für die zuständigen Behörden/ Gerichte grundsätzlich keine Entscheidungsfristen vorgesehen sind, kann der AG im Vorhinein nicht wissen, wann er die Zustimmung erhält und die Kündigung aussprechen kann. Damit kann der AG auch nicht wissen, ob die beabsichtigte Kündigung Teil einer anzeigepflichtigen Massenkündigung ist und der betroffene AN in das dabei durchzuführende Konsultations- und Anzeigeverfahren einbezogen werden muss (vgl Greiner, Die Massenkündigung nach § 45a AMFG [2023] 101 f).

Darüber hinaus kann das Nebeneinander von Massenkündigungsschutz und besonderem Kündigungsschutz zu einer Benachteiligung der besonders bestandgeschützten AN führen, wie sich an folgendem Beispiel veranschaulichen lässt: In einem Betrieb (iSd § 45a AMFG) sind 25 AN beschäftigt. Aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten sieht sich der AG dazu gezwungen, zehn AN zu kündigen, darunter auch eine schwangere AN. Am 15.3. werden alle AN außer die schwangere AN ohne Durchführung eines Massenkündigungsverfahrens gekündigt. Bei der schwangeren AN bringt der AG eine Klage auf Zustimmung zur Kündigung beim zuständigen Arbeits- und Sozialgericht ein. Nach Erteilung der Zustimmung am 17.4. kündigt der AG schließlich noch am selben Tag das Arbeitsverhältnis der schwangeren AN.

Im Beispielfall kommt es am 15.3. zu einer Massenkündigung iSd § 45a Abs 1 Z 1 AMFG. Für die AN ohne besonderen Kündigungsschutz gilt Folgendes: Da der AG kein Konsultations- und Anzeigeverfahren durchgeführt hat, sind die ausgesprochenen Kündigungen unwirksam (Abs 5 leg cit). Die AN können daher auf Feststellung eines aufrechten Arbeitsverhältnisses klagen. Anders ist das bei der schwangeren AN: Da das Arbeitsverhältnis erst nach der gerichtlichen Zustimmung am 17.4. gekündigt werden konnte, liegt ihre Kündigung außerhalb des 30-tägigen Betrachtungszeitraums des § 45a Abs 1 AMFG. Die Kündigung ist daher nicht Teil der anzeigepflichtigen Massenkündigung vom 15.3., weshalb sich die AN nicht auf die Nichtigkeitssanktion des Abs 5 leg cit berufen kann. Die AN unterliegt also nur wegen ihres besonderen Bestandschutzes nicht dem Massenkündigungsschutz.

Dass es sich dabei um kein bloß theoretisches Problem handelt, zeigt ein Blick nach Deutschland, wo ein ähnlicher Fall die Gerichte bereits beschäftigt hat: Im zu beurteilenden Sachverhalt beabsichtigte der AG die Schließung einer Niederlassung mit 36 AN und damit die Vornahme einer Massenentlassung iSd § 17 Abs 1 Z 1 dKSchG. Unter den zu kündigenden AN befand sich auch eine AN in Elternzeit, deren Kündigung gem § 18 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (dBEEG) einer behördlichen Zustimmung bedurfte. Der AG führte – allerdings fehlerhaft – ein Massenentlassungsverfahren durch und kündigte im Dezember 2009 sämtliche Arbeitsverhältnisse, außer jenes der AN in Elternzeit. Ihr Arbeitsverhältnis wurde erst mit der erteilten Zustimmung im März 2010 gekündigt. Im Verfahren berief sich die AN auf die Unwirksamkeit der Kündigung wegen des fehlerhaften Massenentlassungsverfahrens.

Nachdem die Klage bereits vor dem ArbG Frankfurt (6.4.2011, 2 Ca 2422/10) und dem LAG Hessen (31.10.2011, 17 Sa 761/11) als unbegründet abgewiesen wurde, befasste sich das BAG (25.4.2013, 6 AZR 49/12) mit dem dargestellten Sachverhalt: Das Gericht entschied, dass sich die klagende AN nicht auf die im Massenentlassungsverfahren aufgetretenen Fehler berufen könne, weil die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses nicht Teil einer anzeigepflichtigen Massenentlassung gewesen sei. Zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs im März 2010 waren die Schwellenwerte des § 17 dKSchG nicht erreicht, weil alle anderen Arbeitsverhältnisse bereits im Dezember 2009 gekündigt worden waren.

In der darauffolgenden Urteilsverfassungsbeschwerde beurteilte das BVerfG (8.6.2016, 1 BvR 3634/13) die Nichtberücksichtigung der AN als ungerechtfertigte Ungleichbehandlung (iSd Art 3 dGG) von AN mit besonderem Kündigungsschutz, weil die Kündigung der AN nur wegen des Zustimmungserfordernisses gem § 18 dBEEG nicht Teil der anzeigepflichtigen Massenentlassung war. Zur Beseitigung dieser ungerechtfertigten Nichtberücksichtigung sei daher mittels verfassungskonformer Auslegung nicht (nur) auf den Zugang der Kündigung, sondern (auch) auf den Zeitpunkt der Antragstellung auf Zustimmung abzustellen. Nachdem das Urteil des BAG durch das BVerfG aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das BAG zurückgewiesen wurde, schloss sich das BAG (26.1.2017, 6 AZR 442/16) der Auffassung des BVerfG an und erklärte die Kündigung der klagenden AN unter Zugrundelegung des „erweiterten nationalen Entlassungsbegriffs“ wegen Verstoßes gegen § 17 dKSchG für unwirksam.

Diese – in der Lehre überwiegend kritisierte (zB Naber/Sittard in Preis/Sagan [Hrsg], Europäisches Arbeitsrecht3 [2024] Rz 8.56 ff) – Rsp ist Anlass der Untersuchung von Mazurek: Nach einer ausführlichen Darstellung der Grundlagen des europäischen und deutschen Massenentlassungsrechts (Kapitel 2; S 36-91) wird die Einbeziehung von AN mit besonderem Kündigungsschutz in das Massenentlassungsverfahren grundlegend untersucht (Kapitel 3; S 92-250). Im Anschluss wird auf ausgewählte Folgefragen eingegangen, welche durch den „erweiterten nationalen Entlassungsbegriff“ des BVerfG hervorgerufen werden (Kapitel 4; S 251- 300). Die Arbeit schließt mit einer thesenartigen Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse (Kapitel 5; S 301-311).

2. Der Antrag auf Zustimmung zur Kündigung als Entlassung/Auflösung

Um die angesprochene Benachteiligung von AN mit besonderem Kündigungsschutz zu vermeiden, könnte man überlegen, bei diesen AN nicht (nur) auf den Zugang der Kündigung, sondern (auch) auf den Zeitpunkt der Antragstellung auf Zustimmung zur Kündigung abzustellen. Dafür müsste man den Antrag als eine vom Massenentlassungsrecht erfasste Beendigungsart einstufen. Erreicht werden kann das – wie Mazurek richtig erkennt (S 110 f) – über eine entsprechende Auslegung des Begriffs der „Entlassung“ (iSd MassenentlassungsRL oder iSd § 17 dKSchG; in Österreich: „Auflösung“ iSd § 45a AMFG).

2.1. MassenentlassungsRL

Zu Recht setzt Mazurek zunächst am Entlassungsbegriff der MassenentlassungsRL an (S 111-122). Denn ist der Antrag auf Zustimmung zur Kündigung als 351 Entlassung iSd RL zu qualifizieren, so muss auch das Massenentlassungsrecht der Mitgliedstaaten den Antrag als Beendigungsart erfassen (vgl EuGH 12.10.2004, C-55/02). Unter Auswertung der Rsp des EuGH kommt Mazurek zum Ergebnis, dass der Antrag auf Zustimmung zur Kündigung keine Entlassung iSd MassenentlassungsRL sei. Die Mitgliedstaaten seien daher nicht dazu verpflichtet, den Antrag in ihr nationales Massenentlassungsrecht miteinzubeziehen.

Dem ist zuzustimmen: Nach der Rsp des EuGH umfasst der Entlassungsbegriff der Massenentlassungs- RL „jede vom Arbeitnehmer nicht gewollte, also ohne seine Zustimmung erfolgte, Beendigung des Arbeitsvertrags“ aus wirtschaftlichen Gründen (EuGH 7.9.2006, C-187/05 bis C-190/05). Abzustellen ist dabei nicht auf das tatsächliche Ende des Arbeitsverhältnisses, sondern auf die Beendigungserklärung des AG (EuGH 27.1.2005, C-188/03). Voraussetzung ist jedoch, dass der AG die Entlassung „vornimmt“ (EuGH 10.12.2009, C-323/08). Der Entlassungsbegriff der MassenentlassungsRL umfasst somit jede vom AG aus wirtschaftlichen Gründen einseitig vorgenommene Vertragsbeendigung, insb betriebsbedingte AG-Kündigungen (Greiner, JAS 2023, 38 [41]). Vor diesem Hintergrund ist der Antrag auf Zustimmung zur Kündigung keine Entlassung iSd MassenentlassungsRL. Zwar bringt der AG mit der Antragstellung seinen Willen zum Ausdruck, das Arbeitsverhältnis zu beenden; die Antragstellung bewirkt aber für sich genommen noch keine Beendigung des Arbeitsvertrags. Vor Erteilung der Zustimmung kann der AG das Arbeitsverhältnis eines AN mit besonderem Bestandschutz nicht wirksam kündigen. Außerdem steht es dem AG nach erteilter Zustimmung immer noch frei, sich doch gegen die Kündigung zu entscheiden.

Vom gewonnenen Zwischenergebnis ausgehend lenkt Mazurek den Blick auf den Entlassungsbegriff des § 17 dKSchG. Denn wenngleich der Antrag auf Zustimmung zur Kündigung keine Entlassung iSd MassenentlassungsRL ist, können die Mitgliedstaaten den Antrag in ihr nationales Massenentlassungsrecht miteinbeziehen. Art 5 MassenentlassungsRL erlaubt den Mitgliedstaaten, für AN günstigere Vorschriften vorzusehen. Damit eine günstigere Vorschrift idS vorliegt, muss die getroffene Regelung – worauf Mazurek zutreffend hinweist (S 178 f) – stets günstiger sein. Ambivalente Regelungen, die neben günstigeren Folgen auch nachteilige Auswirkungen nach sich ziehen, sind nicht günstiger iSd Art 5 MassenentlassungsRL (vgl EuGH 13.5.2015, C-392/13). Eine günstigere Regelung liegt daher mit Mazurek (S 180-182) nur vor, wenn der Antrag auf Zustimmung zur Kündigung als zusätzlich vom nationalen Massenentlassungsrecht erfasste Beendigungsart qualifiziert wird.

Da der deutsche Gesetzgeber an keiner Stelle ausdrücklich einen Willen erklärt hat, den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung eines AN mit besonderem Bestandschutz in den Entlassungsbegriff des § 17 dKSchG miteinzubeziehen, ist – wie Mazurek richtig erkennt (S 193 f) – der Antrag nur dann als Entlassung zu qualifizieren, wenn dies verfassungsrechtlich geboten ist. Mazurek setzt sich daher ausführlich mit dem Gleichheitssatz nach Art 3 dGG auseinander (S 195-239) und gelangt zur Auffassung, dass es verfassungsrechtlich nicht notwendig sei, den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung dem Entlassungsbegriff des § 17dKSchG zu unterstellen (S 239).

Mazurek kommt daher zu folgendem Ergebnis (S 249 f ): Für AN mit besonderem Kündigungsschutz gilt der „normale“ Entlassungsbegriff des § 17 dKSchG. Diese AN sind also nach den gleichen Regeln wie alle anderen AN in das Massenentlassungsverfahren einzubeziehen. Sollte die Anwendung des besonderen Kündigungsschutzes dazu führen, dass die Kündigungen der betroffenen AN nicht Teil einer anzeigepflichtigen Massenkündigung sind, so ist dies hinzunehmen. Dies ist letztlich Folge des Nebeneinanders von Massenkündigungsschutz und besonderem Kündigungsschutz.

2.3. § 45a AMFG

Nach österreichischem Recht wird man wohl zum gleichen Ergebnis gelangen: Wie dargelegt (2.1.), besteht keine unionsrechtliche Verpflichtung, den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung eines AN mit besonderem Kündigungsschutz als „Auflösung“ iSd § 45a AMFG einzustufen. Zwar würde es dem Gesetzgeber freistehen, den Antrag zusätzlich dem Auflösungsbegriff des § 45a AMFG zu unterstellen (vgl Art 5 MassenentlassungsRL). Jedoch ist ein solcher Wille des Gesetzgebers nicht erkennbar, und auch der österreichische Gleichheitssatz (Art 7 Bundes-Verfassungsgesetz [B-VG] und Art 2 Staatsgrundgesetz [StGG]) verlangt keine Einbeziehung des Antrags auf Zustimmung zur Kündigung: Zwar folgt aus dem Gleichheitssatz ein Sachlichkeitsgebot, welches dem Gesetzgeber verbietet, sachlich nicht begründbare Regelungen zu treffen. Jedoch verbleibt dem Gesetzgeber ein gewisser Gestaltungsspielraum, der es ihm erlaubt, seine (sozial)politischen Zielvorstellungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verfolgen. Im Rahmen dieses Spielraums kann der Gesetzgeber einfache und leicht handhabbare Regelungen treffen und darf bei der Normsetzung generalisierend von einer Durchschnittsbetrachtung ausgehen und auf den Regelfall abstellen sowie Härtefälle in Kauf nehmen (VfGH 1.6.2019, G 11/2019 mwN). Vor diesem Hintergrund verstößt die durch das Nebeneinander von Massenkündigungsschutz und besonderem Kündigungsschutz bewirkte (faktische) Benachteiligung von besonders bestandgeschützten AN wohl nicht gegen den Gleichheitssatz. Damit ist eine Einbeziehung des Antrags auf Zustimmung zur Kündigung in das österreichische Massenkündigungsrecht verfassungsrechtlich nicht geboten.

3. Schluss

Wenngleich sich die Arbeit von Mazurek primär mit der deutschen Rechtslage befasst, ist ihre Lektüre aus österreichischer Sicht gewinnbringend. Das in der Arbeit behandelte Verhältnis von Massenkündigungsschutz zu besonderem Bestandschutz ist in Österreich bisher kaum untersucht. Die von Mazurek angestellten Überlegungen können daher dazu anregen, dieses Thema aus österreichischer Perspektive zu betrachten. Zudem sind die Ausführungen zu den Grundlagen des europäischen Massenentlassungsrechts unmittelbar auch für Österreich relevant und bieten eine wertvolle Hilfe bei der Auslegung der österreichischen Umsetzungsnormen (insb § 45a AMFG). 352