28§ 10 AÜG verwendet den allgemeinen Entgeltbegriff und erfasst auch aperiodische Entgelte
§ 10 AÜG verwendet den allgemeinen Entgeltbegriff und erfasst auch aperiodische Entgelte
Aufgrund der LeiharbeitsRL und deren nationaler Umsetzung ist die Rsp, wonach sich § 10 Abs 1 AÜG nur auf die periodisch, in der Regel monatlich fällig werdenden Entgeltansprüche beziehe, nicht mehr in dieser Allgemeinheit aufrecht zu erhalten.
Das österreichische Arbeitsrecht geht von einem umfassenden Entgeltbegriff aus. Diesen hat der Gesetzgeber auch in § 10 AÜG verwendet. Ein eigener Entgeltbegriff für überlassene Arbeitskräfte würde gegen das Gebot der Gleichbehandlung des Art 5 Abs 1 LeiharbeitsRL verstoßen.
§ 10 Abs 1 AÜG erfasst daher jedenfalls nunmehr auch aperiodische Entgelte, wie eine einmalige Corona-Prämie.
§ 10 Abs 1 S 4 AÜG beruht auf der Ausnahmeregelung des Art 5 Abs 3 LeiharbeitsRL. Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber Art 5 Abs 2 LeiharbeitsRL umsetzen wollte, bestehen nicht.
[1] Der Kl war bei der Bekl von 1.3.2015 bis 21.12.2022 [...] im Ausmaß von 9,25 % [...] einer Vollzeitbeschäftigung als Simulatorpilot tätig und an die Nebenintervenientin überlassen.
[2] Auf die Dienstverhältnisse der AN der Nebenintervenientin ist der 2. KollV für die Bediensteten der Austro Control GmbH anzuwenden. Der 23. Nachtrag zum KollV enthält die folgenden Bestimmungen:
„2. Corona-Prämie
Alle Mitarbeiter:innen mit einem aufrechten Dienstverhältnis zum 31.12.2021 erhalten einmalig für 2021 für ihren besonderen Einsatz und die erhöhte Belastung während der COVID-19-Pandemie eine einmalige Prämie gem. § 124b Ziff. 350 lit a EstG i.V.m. § 49 Abs 3 Ziff 30 ASVG in der Höhe von EUR 3.000,–, Mitarbeiterinnen in einem Ausbildungsverhältnis (Trainees in der ATM bzw. AES) in der Höhe von EUR 1.000,–.
Diese Prämie anerkennt die bisherigen besonderen Leistungen der Mitarbeiterinnen im Zuge der herausfordernden Monate der Corona-Pandemie, welche sich auch noch auf 2022 erstreckt. [...]
3. Umsetzung [...] Auszahlung Corona-Prämie [...] Die Auszahlung der Corona-Prämie erfolgt im Februar 2022.“
[3] Der Kl begehrte von der Bekl (ua), gestützt auf § 10 AÜG, die Zahlung einer [...], der Höhe nach unstrittigen Corona-Prämie von 277,50 € sA. Nach der Umsetzung der Richtlinie 2008/104/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit (in der Folge: LeiharbeitsRL) könne die bisherige Rsp des OGH, wonach sich § 10 Abs 1 AÜG unmittelbar nur auf periodisch, in der Regel monatlich, fällig werdende Entgeltansprüche beziehe (9 ObA 113/03p; 9 ObA 158/07m), nicht mehr aufrecht erhalten werden.
[4] Die Bekl und die Nebenintervenientin beantragten die Abweisung des Klagebegehrens und entgegneten, § 10 AÜG gewähre überlassenen AN lediglich eine grobe Gleichstellung mit den kollektivvertraglichen Entgelten vergleichbarer AN der Stammbelegschaft für vergleichbare Tätigkeiten. In der Stammbelegschaft gebe es aber keine Simulatorpiloten. [...]
[5] Das Erstgericht teilte die Ansicht der Bekl und wies das im Rechtsmittelverfahren noch zu behandelnde Klagebegehren auf Zuerkennung einer Corona-Prämie von 277,50 € sA ab.
[6] Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil und gab dem Klagebegehren statt. [...] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil es keine höchstgerichtliche Rsp zur Auslegung des § 10 Abs 1 S 3 AÜG seit Geltung der LeiharbeitsRL gebe.
[7] In ihrer Revision wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung beantragen die Bekl und die Nebenintervenientin die Wiederherstellung des Ersturteils. [8] Die Kl beantragt, die Revision mangels einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen und hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
[9] Die Revision ist zulässig, weil es seit der Umsetzung der LeiharbeitsRL noch keine höchstgerichtliche Rsp zum Entgeltbegriff des § 10 Abs 1 AÜG gibt. Sie ist aber nur teilweise berechtigt.
I. Ausgangssituation:
[10] 1. Gem § 10 Abs 1 S 1 AÜG hat der überlassene AN („die Arbeitskraft“) Anspruch auf ein angemessenes, ortsübliches Entgelt, das mindestens einmal monatlich auszuzahlen und schriftlich abzurechnen ist. Gem § 10 Abs 1 S 3 AÜG ist bei der Beurteilung der Angemessenheit für die Dauer der Überlassung auf das im Beschäftigerbetrieb vergleichbaren AN für vergleichbare Tätigkeiten zu zahlende kollektivvertragliche oder gesetzlich festgelegte Entgelt Bedacht zu nehmen. Gem § 10 Abs 4 AÜG ist die Vergleichbarkeit nach der Art der Tätigkeit und der Dauer der Beschäftigung im Betrieb des Beschäftigers sowie der Qualifikation des überlassenen AN für diese Tätigkeit zu beurteilen.
[11] 2. Die Revision spricht zwei Rechtsfragen an, die voneinander zu trennen sind: Zunächst die Frage, ob die im KollV des Beschäftigerbetriebs geregelte einmalige Corona-Prämie überhaupt unter den Entgeltbegriff des § 10 Abs 1 AÜG fallen kann, und bejahendenfalls die Frage, ob der Kl darauf im Lichte des § 10 Abs 1 S 3, Abs 4 AÜG einen Rechtsanspruch hat.
II. Entgeltbegriff des § 10 Abs 1 AÜG:
1. Bisherige Rechtsprechung:
[12] 1.1. Die Revision tritt der Rechtsansicht des Berufungsgerichts entgegen, eine im KollV vorgesehene einmalige „Corona-Prämie“ falle unter den Entgeltbegriff des § 10 Abs 1 AÜG. Sie verweist darauf, dass der OGH diese Bestimmung vor der Umsetzung der LeiharbeitsRL zwei Mal nur auf periodisch, in der Regel monatlich, fällig werdende Entgelte bezogen habe. Letzteres trifft zu:
[13], [14] [Geben die Inhalte der E 9 ObA 113/03p und 9 ObA 158/07m wieder; Anm d Verf] 275
2. Leiharbeits-Richtlinie:
[15] 2.1. Am 5.12.2008 trat die LeiharbeitsRL in Kraft (Art 13).
[16] 2.2. In Erwägungsgrund 14 der LeiharbeitsRL ist festgehalten, dass die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für Leih-AN mindestens denjenigen entsprechen sollten, die für diese AN gelten würden, wenn sie von dem entleihenden Unternehmen für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt würden.
[17] 2.3. Gem Art 2 LeiharbeitsRL ist es deren Ziel, für den Schutz der Leih-AN zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Leih-AN gem Art 5 der RL gesichert wird und die Leiharbeitsunternehmen als AG anerkannt werden.
[18] 2.4. Nach Art 5 Abs 1 LeiharbeitsRL entsprechen die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leih-AN während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen, die für sie gelten würden, wenn sie von jenem genannten Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären. Zu den wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gehört nach Art 3 Abs 1 lit f sublit ii LeiharbeitsRL auch das Arbeitsentgelt. Die „Begriffsbestimmung“ von „Arbeitsentgelt“ überlässt Art 3 Abs 2 LeiharbeitsRL ausdrücklich dem nationalen Recht.
[19] 2.5. Die Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Leih-AN sind in Art 5 Abs 2 bis 4 LeiharbeitsRL geregelt, ua die folgenden:
[20] 2.5.1. In Bezug auf das Arbeitsentgelt können die Mitgliedstaaten gem Art 5 Abs 2 LeiharbeitsRL nach Anhörung der Sozialpartner die Möglichkeit vorsehen, vom Grundsatz des Abs 1 abzuweichen, wenn Leih-AN, die einen unbefristeten Vertrag mit dem Leiharbeitsunternehmen abgeschlossen haben, auch in der Zeit zwischen den Überlassungen bezahlt werden.
[21] 2.5.2. Nach Art 5 Abs 3 LeiharbeitsRL können die Mitgliedstaaten nach Anhörung der Sozialpartner diesen die Möglichkeit einräumen, auf der geeigneten Ebene und nach Maßgabe der von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen Tarifverträge (in Österreich: Kollektivverträge) aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leih-AN Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leih- AN enthalten können, welche von den in Abs 1 aufgeführten Regelungen abweichen können.
3. Umsetzung der LeiharbeitsRL:
[22] 3.1. Der Gesetzgeber setzte die LeiharbeitsRL mit BGBl I 2012/98 in das nationale Recht um. Der hier auszulegende § 10 Abs 1 AÜG wurde um seinen vierten Satz ergänzt, blieb sonst aber unverändert.
[23] 3.2. Das vom Gesetzgeber erklärte Ziel der Gesetzesänderung war die „Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie in nationales Recht
“, insb durch die „ausdrückliche Verankerung der Gleichstellung und Gleichbehandlung überlassener Arbeitskräfte mit ArbeitnehmerInnen des Beschäftigers
“ (ErläutRV 1903 BlgNR 24. GP 1).
[24] 3.3. Zu § 10 Abs 1 AÜG erklärte der Gesetzgeber, er sehe „eine Gleichstellung überlassener Arbeitskräfte mit vergleichbaren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern des Beschäftigerbetriebes betreffend Entgelt
“ vor, und ergänzte: „Der Entgeltbegriff des § 10 ist umfassend zu verstehen. Diese Auslegung im Sinne der Leiharbeitsrichtlinie entspricht der Auffassung der Expertengruppe zur Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie, wonach der Entgeltbegriff weit zu interpretieren ist.
“ Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber die Ausnahmeregelung des Art 5 Abs 2 LeiharbeitsRL umsetzen wollte, bieten die Gesetzesmaterialien nicht. Sie weisen nur auf die mögliche Abweichung von der Gleichstellung durch KollV gem Art 5 Abs 3 iVm Abs 5 LeiharbeitsRL hin (ErläutRV 1903 BlgNR 24. GP 3).
4. Auswirkungen auf die Rechtsprechung:
[25] 4.1. Aufgrund der LeiharbeitsRL und deren nationaler Umsetzung ist die Rsp, § 10 Abs 1 AÜG beziehe sich unmittelbar nur auf die periodisch, in der Regel monatlich fällig werdenden Entgeltansprüche, nicht mehr in dieser Allgemeinheit aufrecht zu erhalten.
[26] 4.2. Das österreichische Arbeitsrecht geht allgemein von einem umfassenden Entgeltbegriff aus (RS0027965). Diesen hat der Gesetzgeber, wie er in den Gesetzesmaterialien zur Umsetzung der LeiharbeitsRL ausdrücklich erklärte, auch in § 10 Abs 1 AÜG verwendet. Dieser Wille des Gesetzgebers findet im – wenn auch im Zuge der Novellierung unverändert gebliebenen – Wortlaut des § 10 Abs 1 S 1 AÜG ohne Weiteres Deckung: Der letzte Halbsatz („das mindestens einmal monatlich auszuzahlen und schriftlich abzurechnen ist“) kann zwanglos als bloße Abrechnungsregelung verstanden werden. Auch die systematische und die objektivteleologische Interpretation bieten keine Anhaltspunkte dafür, zu einem anderen Ergebnis zu gelangen als der Gesetzgeber der Umsetzung der LeiharbeitsRL. Dazu kommt die gebotene richtlinienkonforme Interpretation: Ein eigener Entgeltbegriff für überlassene Arbeitskräfte würde gegen das Gebot der Gleichbehandlung des Art 5 Abs 1 LeiharbeitsRL verstoßen (vgl auch Erwägungsgrund 14 der LeiharbeitsRL). Die Auslegung des § 10 Abs 1 S 1 AÜG führt daher jedenfalls nunmehr – nach der Umsetzung der LeiharbeitsRL – zum Ergebnis, dass er sich nicht nur auf das periodisch, in der Regel monatlich fällig werdende Entgelt bezieht, sondern dass ihm der allgemeine arbeitsrechtliche Entgeltbegriff zugrunde liegt.
[27] 4.3. Damit kommt der Senat zum selben Ergebnis wie die herrschende Ansicht in der Literatur, die den Entgeltbegriff des § 10 Abs 1 AÜG – zum Teil bereits vor der LeiharbeitsRL, jedenfalls aber nach deren nationaler Umsetzung – nicht auf periodisch fällig werdende Entgeltansprüche beschränkt, sondern umfassend versteht (vgl Burger, Entgeltschutz, Gleichstellungsanspruch und Diskriminierungsschutz überlassener Arbeitskräfte, in Raschauer/Resch [Hrsg], Neuerungen bei der Arbeitskräfteüberlassung [2014] 65 [69 ff]; Risak, AÜG: Abfertigungsanspruch nach dem Beschäftiger-Kollektivvertrag, ecolex 2004, 465; Schindler, 276Europarechtliche Grundlagen der AÜG-Novelle 2012 und ihre grundsätzliche Umsetzung in Österreich, in Raschauer/Resch [Hrsg], Neuerungen bei der Arbeitskräfteüberlassung [2014] 13 [19 f]; Schindler in ZellKomm3 § 10 AÜG Rz 10 f; Schrattbauer in Schrattbauer, AÜG § 10 Rz 29; Tomandl, Arbeitskräfteüberlassung4 [2021] 87, 91).
[28] 4.4. Die Parteien stellen nicht in Abrede, dass der allgemeine arbeitsrechtliche Entgeltbegriff auch eine kollektivvertragliche Corona-Prämie umfasst, die einmalig auszuzahlen ist. Die Bekl kann daher die Auszahlung der Corona-Prämie an den Kl nicht mit der Begründung verweigern, sie sei kein Entgelt iSd § 10 Abs 1 AÜG.
III. Beurteilung des Anspruchs nach § 10 Abs 1 S 3 AÜG:
[29] 1. Nach der stRsp des OGH normiert § 10 Abs 1 S 3 AÜG mit dem Ausdruck „Bedachtnahme“ jedenfalls einen Anspruch des überlassenen AN auf das Mindestentgelt vergleichbarer AN für vergleichbare Tätigkeiten nach dem KollV des Beschäftigerbetriebs (vgl RS0050789 [T2, T4, T5]). Die Revision zieht das nicht in Zweifel.
[30] 2. Die einmalige Corona-Prämie ist ein kollektivvertragliches Mindestentgelt für alle AN des Beschäftigerbetriebs mit einem aufrechten Arbeitsverhältnis am 31.12.2021 – unabhängig von der Art ihrer Tätigkeit. Dass der hier zu beurteilende KollV nach der Revision ein „echter Firmenkollektivvertrag“ ist, ändert daran nichts. Insofern sind, wie bereits das Berufungsgericht richtig betont hat, alle AN des Beschäftigerbetriebs mit dem Kl als überlassener Arbeitskraft vergleichbar iSd § 10 Abs 1 S 3, Abs 4 AÜG. Damit hat auch der Kl nach diesen Bestimmungen einen Anspruch auf diese Prämie. Die in der Revision geforderte „hypothetische arbeitsplatzbezogene Betrachtungsweise“ ist folglich nicht mehr anzustellen.
[31] 3. Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit der in der Revision zitierten E 9 ObA 33/13p, nach der für die Dauer der Überlassung auf das an AN des Beschäftigerbetriebs für vergleichbare Arbeiten zu zahlende kollektivvertragliche Mindestentgelt Bedacht zu nehmen ist (RS0050789) und § 10 AÜG die Entgeltansprüche des überlassenen AN somit „weitgehend“ jenen der Stamm-AN annähert.
IV. Sonstiges:
[32] 1. Da sich keine unionsrechtlichen Auslegungsfragen stellten – insb weil die LeiharbeitsRL die Bestimmung des Entgeltbegriffs dem nationalen Recht überlässt –, war das von den Parteien (hilfsweise) angeregte Vorabentscheidungsersuchen entbehrlich. [...]
Der OGH hat mit der E seine Rsp zum Entgeltbegriff des § 10 AÜG geändert. In Übereinstimmung mit der einhelligen Lehre kommt er zum richtigen Ergebnis, dass § 10 AÜG den allgemeinen Entgeltbegriff verwendet und somit auch aperiodische Entgelte erfasst (Kap 2.).
Die Rsp zum Entgeltbegriff des AÜG ist mE jedoch auch in anderer Hinsicht überholt: Der OGH hat in mehreren Entscheidungen vertreten, § 10 AÜG beziehe sich nur auf Mindestentgelte. Nun ist es zwar unstrittig, dass das AÜG idR keinen Anspruch überlassener Arbeitskräfte auf Bezahlung branchenüblicher Ist-Löhne vorsieht. Nicht damit zu vermengen ist aber die Frage: Sind Regeln des Beschäftiger-KollV, die sich (auch) auf – aus welchen Gründen immer vorhandene – Überzahlungen beziehen, für überlassene AN gültig? Insb geht es um Regelungen betreffend die Erhöhung der tatsächlichen Löhne/Gehälter im Rahmen von Lohnrunden (Kap 3.).
Ferner hat er sich mit der Frage befasst, auf welcher Grundlage europäischen Rechts die vom Gleichbehandlungsgebot der Leiharbeits-Richtlinie (RL 2008/104/EG; Im Folgenden „RL“) abweichenden Regelungen des § 10 AÜG beruhen. Diese Frage ist von hoher Bedeutung, weil die EU-Konformität des § 10 Abs 1 S 4 AÜG ua davon abhängt. Diese wird in der Literatur, anders als in der Rsp, überwiegend verneint. Umso mehr lohnt sich ein Blick auf die diesbezügliche Begründung und die Konsequenzen der mE gleichfalls richtigen Ausführungen des Höchstgerichtes dazu (Kap 4.).
Die Frage der Vergleichbarkeit von Leih- und Stamm-AN iSd § 10 Abs 4 AÜG spricht die Entscheidung am Rande an. Sie ist zu diesem Thema jedoch unergiebig, weil die strittige Corona-Prämie gemäß dem Beschäftiger-KollV völlig unabhängig von der Tätigkeit allen AN zustand. Auch den Umstand, dass der Beschäftiger-KollV ein „echter Firmenkollektivvertrag“ ist, hat das Höchstgericht zurecht als unmaßgeblich beurteilt. Diese Fragen werden daher nicht behandelt.
a) Der OGH hat in Übereinstimmung mit der umfassend dargestellten, einhelligen Lehre den Judikaturwechsel überzeugend begründet. Ein wenig irritiert die Einschränkung, man könne an der bisherigen Rsp „in dieser Allgemeinheit“ nicht festhalten. Aber das dürfte nur eine Floskel sein: Aus der doppelten Begründung der E ergibt sich sehr klar, dass keinerlei Ausnahmen bestehen. Sowohl aus nationaler Sicht als auch insb in Berücksichtigung der europarechtlichen Vorgaben ist der allgemeine, weite österreichische Entgeltbegriff uneingeschränkt gültig. Das spricht der OGH in der Folge auch so aus (Rz 27 der E).
b) Der Entgeltbegriff ist umfassend: Neben dem Grundlohn/Gehalt sind alle Arten von regelmäßig oder unregelmäßig gebührenden Zulagen, Provisionen, Prämien, Umsatzbeteiligungen, Naturalleistungen, Sonderzahlungen usw Entgelt. Auch solche Leistungen gehören dazu, die nur jährlich oder auch weit seltener, zum Teil nur einmal im Laufe des Arbeitsverhältnisses anfallen: Die strittige einmalige Corona-Prämie, jegliche Jahresprämien, Gewinn- oder Unternehmensbeteiligungen, Dienst- und Firmenjubiläen, aber auch Kollektivvertragsregelungen zur Abfertigung „alt“. Besonders für Angestellte, die mitunter jahrzehntelang 277 überlassen werden, sind im Beschäftiger-KollV vorgesehene Ansprüche auf Zahlungen anlässlich von Dienstjubiläen von hoher Bedeutung (der KollV für Angestellte in Gewerbe, Handwerk und Dienstleistung sieht solche Leistungen nicht vor). Selbst die in § 2a AVRAG genannten Beteiligungs- und Optionsansprüche sind Entgelt – sie sind bloß nicht in die Bemessungsgrundlage für Entgeltfortzahlungsansprüche und Beendigungsansprüche einzubeziehen. Nur Aufwandsentschädigungen fallen nicht unter den Entgeltbegriff, weil sie im Prinzip nur Aufwendungen des/der AN für den AG ersetzen, also dem/der AN gar nicht verbleiben. Hier gibt es im Einzelnen Abgrenzungsprobleme, insb wenn pauschalierte Aufwandersätze deutlich über dem plausiblen Aufwand liegen (dazu Löschnigg, Arbeitsrecht13 [2017] Rz 6/127). Ich persönlich denke, dass der Entgeltbegriff des § 10 AÜG sogar günstiger ist als der allgemeine und auch Aufwandsentschädigungen erfasst (Schindler in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm § 10 AÜG Rz 10), aber diese Auffassung ist vereinzelt geblieben.
c) Der OGH betont die Übereinstimmung der vorliegenden E mit seinem Erk 9 ObA 33/13p (= DRdA 2014/14, 132 [krit Schrattbauer] = ZAS 2014/12, 76 [zust Wiesinger]). Das überrascht, da diese E keinerlei Aussagen zum Entgeltbegriff des § 10 AÜG enthält. Es ging dort um die Frage, wie sich eine im Beschäftiger-KollV angeordnete Erhöhung der Löhne um einen Mindestbetrag auf die Löhne der überlassenen Arbeitskräfte auswirkt, wenn diese Anspruch auf einen im KVAÜ vorgesehenen „Referenzzuschlag“ zu den Löhnen des Beschäftiger-KollV haben. Das Höchstgericht kam seinerzeit zum Ergebnis, in diesem Fall sei die Mindestbetragserhöhung durch den erwähnten Zuschlag bereits abgegolten. Es bezog sich dabei auch auf eine frühere E (OGH9 ObA 130/04i DRdA 2005/31, 406 [zust Geppert]), wo es Gleiches hinsichtlich einer Einmalzahlung ausgesprochen hatte. Auch dort wurde der Entgeltbegriff des § 10 AÜG vom OGH (anders als noch vom Berufungsgericht) nicht thematisiert.
Die in der nunmehrigen E betonte Übereinstimmung bezieht der OGH auf die Aussage (bei)der E, dass § 10 AÜG „die Entgeltansprüche überlassener AN [somit] ‚weitgehend‘ an jene der Stamm-AN annähert
“. Diese Aussage hat wenig Bezug zum strittigen Entgeltbegriff. Eigentlich müsste man nun auch formulieren, dass hinsichtlich der Entgeltregelungen des Beschäftiger-KollV eine vollständige Gleichstellung erfolgt ist, da der nun gleiche Entgeltbegriff diesbezüglich keinerlei Abweichung mehr zulässt. So sieht es auch die RL vor, von der – wie die E richtig betont – § 10 nur hinsichtlich betrieblicher Entgeltregeln abweicht. Auch die gesetzlich angeordnete „Bedachtnahme“, deren Inhalt unstrittig die zwingende Anwendung der Regeln des Beschäftiger-KollV ist (OGH9 ObA 196/91 Arb 10.977), eröffnet spätestens seit der Geltung der RL keinerlei Spielraum mehr.
Insofern braucht heute nur mehr unterschieden werden, welche Bestimmungen Entgelte regeln und welche dem sogenannten Rahmenrecht zuzuordnen sind. Das Rahmenrecht der Beschäftiger-Kollektivverträge ist, bedauerlicherweise, für Leih- AN nicht anwendbar, die entgeltrechtlichen Regelungen schon.
a) ME gleichfalls zu überdenken ist die Rsp, wo nach § 10 AÜG nur Kollektivvertragsmindestentgelte erfasse. Die in einem Beschäftiger-KollV festgelegte Istlohn-Erhöhung gilt nach Auffassung des OGH für überlassene Arbeitskräfte nicht (OGH8 ObA 18/14a ecolex 2014/300, 733 = infas 2014 A 68, 190; zust Rauch, Arbeitsentgelt überlassener Arbeitskräfte, ASoK 2017, 450). Das widerspricht fundamental dem allgemeinen österreichischen Entgeltbegriff, der nicht einmal ansatzweise eine derartige Einschränkung kennt. Der OGH hat diese Aussage auch nicht mit dem Entgeltbegriff des § 10 begründet, sondern irritierenderweise damit, dass überlassene Arbeitskräfte keinen Anspruch auf die Ist-Löhne/Gehälter vergleichbarer Stammbeschäftigter hätten, sondern nur auf deren Mindestlöhne/-gehälter. Damit vermengt er jedoch zwei völlig verschiedene Fragen und Regelungsebenen:
Einerseits die Frage, ob überlassene AN auch Überzahlungen der Mindestlöhne der Einsatzbranche bzw des Beschäftigerbetriebes erhalten müssen, gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen. Das ist keine Frage des Entgeltbegriffs, sondern nur davon abhängig, welche entgeltrelevanten Rechtsquellen auch für sie gelten: Nur Kollektivverträge, auch generelle betriebliche Regelungen des Beschäftigers oder gar auch arbeitsvertragliche Vereinbarungen vergleichbarer AN? Denn Ist-Löhne bzw -Gehälter sind sehr oft individuell vertraglich vereinbart. Die Antwort ist unstrittig, dass in aller Regel kein Anspruch auf Bezahlung der Ist-Löhne/Gehälter besteht. Der Grund dafür ist lediglich, dass solche Ansprüche niemals auf dem Beschäftiger-KollV beruhen, sonst wären es Mindestansprüche, sondern auf anderen, idR nicht anzuwendenden Rechtsquellen, häufig dem persönlichen Arbeitsvertrag.
Andererseits die davon strikt zu trennende Frage der Geltung kollektivvertraglicher Regelungen, die sich (auch oder nur) auf Ist-Löhne/ Gehälter beziehen, insb von Regelungen zu deren Valorisierung. Solche Regeln sind häufig Teil kollektivvertraglicher Lohnabschlüsse. Sie haben mit einem Anspruch auf Bezahlung von Ist-Löhnen gar nichts zu tun, sondern setzen Überzahlungen der Kollektivvertragsmindestlöhne vielmehr voraus, auf welcher Rechtsgrundlage immer solche gegebenenfalls geleistet werden.
Kurz gesagt: Ist-Löhne beruhen nie auf Kollektivverträgen und werden daher vom Begriff „kollektivvertragliches Entgelt“ des § 10 Abs 1 S 3 AÜG nicht erfasst; Regeln betreffend Istlohn-Erhöhungen hingegen schon, soweit sie auf KollV beruhen, was fast immer der Fall ist. Es handelt sich sogar 278 um (im Zeitpunkt des Inkrafttretens) zwingende Kollektivvertragsregelungen (was § 10 gar nicht voraussetzt) und sie betreffen das Entgelt iSd allgemeinen österreichischen Entgeltbegriffs. Also gelten sie für überlassene AN, wie alle anderen Entgeltregeln des Beschäftiger-KollV. Das sieht auch das Europarecht so vor, wie der OGH in Pkt 3.5. der fraglichen E ausdrücklich bestätigt. Nur übersieht er, dass Österreich davon nicht abgegangen ist, weil es sich um eine Kollektivvertragsregelung handelt, nicht um eine betriebliche (Schrattbauer, Arbeitskräfteüberlassung [2015] 257).
b) Der OGH formuliert sonst auch stets richtig, dass § 10 AÜG auf alle Entgeltregelungen eines Beschäftiger-KollV verweist und formuliert keine Einschränkungen nur auf Mindestlöhne oder gar nur eine Mindestlohntabelle. Auch wenn sich dessen Regelungen, zB zur Berechnung von Sonderzahlungen oder Überstundenentgelten udgl, (auch) auf Überzahlungen beziehen, sind sie unstrittig anzuwenden – sofern eben Überzahlungen bestehen. Zu Überzahlungen zwingen die Beschäftiger-Kollektivverträge auch bei Stammbeschäftigten nicht. Aber wenn sie Regelungen für allenfalls vorhandene Überzahlungen treffen, so gelten auch diese für überlassene Arbeitskräfte, soweit sie ebenfalls – aus welchen Gründen immer – ein/en Grundlohn/Grundgehalt beziehen, der/das über den Mindestsätzen der jeweiligen Branche liegt.
c) Hinzu kommt für Arbeiter:innen, dass Abschnitt IX Pkt 3 KVAÜ zwingend anordnet, hinsichtlich des Überlassungslohns alle einschlägigen Regelungen des Beschäftiger-KollV anzuwenden, also auch dessen allfällige Regelungen über Istlohn-Erhöhungen (der KollV für Angestellte in Gewerbe, Handwerk und Dienstleistung enthält eine solche Anordnung nicht). In Übereinstimmung damit regelt Anhang II KVAÜ nur die Valorisierung von Überzahlungen der von ihm selbst festgesetzten Grundlöhne. Diese Regelung bezieht sich ausdrücklich nicht auf Überlassungslöhne, für deren Valorisierung ja gem Abschnitt IX Pkt 3 KVAÜ die Regeln des jeweiligen Beschäftiger-KollV gelten. Auch aus systematischer Sicht liegt somit eine gut abgestimmte Regelung vor. Die Pflicht zur Anwendung der Regeln der Istlohn- Erhöhung des Beschäftiger-KollV ergibt sich somit nicht nur aus § 10 AÜG, sondern bereits aus dem KVAÜ selbst.
Daher ist aber auch kein Günstigkeitsvergleich zwischen Ansprüchen gem § 10 AÜG und jenen des KVAÜ anzustellen, wie dies der OGH sowohl in der E 9 ObA 33/13p (DRdA 2014/14, 132 [krit Schrattbauer] = ZAS 2014/12, 76 [zust Wiesinger]) als auch in der E 9 ObA 130/04i (DRdA 2005/31, 406 [zust Geppert]) getan hat. Es werden vielmehr von derselben Rechtsquelle, nämlich dem KVAÜ, zwei Ansprüche geschaffen: Nämlich sowohl der auf Berücksichtigung der Mindestbetragserhöhung bzw Einmalzahlung, die der Beschäftiger-KollV im Rahmen seiner Lohnrunde vorsieht; als auch jener auf „Referenzzuschlag“. Und es ist ausschließlich anhand der Regelungen des KVAÜ zu klären, in welchem Verhältnis diese beiden Ansprüche zueinanderstehen. Das ist eine Frage der Auslegung des KVAÜ, die ich hier nicht weiter vertiefe. Nur so viel: Dass die Regelungen über die Berechnung des Referenzzuschlages in keinerlei Konkurrenz zu Regeln über eine Einmalzahlung stehen, scheint mir offenkundig, zumal es sich bei der Einmalzahlung um eine Regelung handelt, die (auch) den Mindestlohn (vorübergehend) erhöht (Illitz, Entgeltbegriff des § 10 Abs 1 AÜG umfasst nicht nur periodisch fällig werdendes Entgelt, DRdA-infas 2025, 18; vgl auch Schindler, KVAÜ5 [2022] Rz 14 und 17 zu Abschnitt IX/3-4a KVAÜ).
a) ME sehr wichtig ist ferner ein „Nebensatz“ der E, in dem der OGH klarstellt, dass der Gesetzgeber bei der Umsetzung der RL (AÜG-Novelle 2012, BGBl I 2012/98 ) ausschließlich von der Ausnahmeregelung des Art 5 Abs 3 RL Gebrauch gemacht hat. Es fänden sich keine Hinweise darauf, dass die Möglichkeit einer Ausnahme gem Art 5 Abs 2 RL genutzt worden wäre. Bisher hatte der OGH beide Absätze als mögliche Grundlage der Abweichungen des § 10 AÜG von der RL durch die AÜG-Novelle 2012 genannt (zB in OGH8 ObA 18/14a ecolex 2014/300, 733; ebenso Grünanger, ecolex 2009, 426; Schörghofer, Gleichbehandlung im AÜG, in Brodil [Hrsg], Diener fremder Herren [2016] 47 f). Dieser Satz steht im Abschnitt 3. der E, über die österreichische Umsetzung der RL. Er bringt wohl nochmals zum Ausdruck, dass dabei keine Abweichung vom Entgeltbegriff der RL beschlossen wurde. Aber seine Bedeutung geht weit darüber hinaus:
Der wesentliche Unterschied zwischen den fraglichen beiden Absätzen des Art 5 RL liegt darin, dass Abs 2 die Mitgliedstaaten generell ermächtigt, von der RL abweichende Regelungen hinsichtlich des Entgelts zuzulassen, während Abs 3 ihnen nur die Möglichkeit einräumt, den Sozialpartnern dieses Recht zu geben, aber diesen hinsichtlich aller Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen (Erwägung 16 der RL). In beiden Fällen bestehen zusätzliche Voraussetzungen: Abs 2 können die Mitgliedstaaten nur nutzen, wenn die Beschäftigung der überlassenen Arbeitskräfte auf einem unbefristeten Vertrag beruht und diese auch in der Zeit zwischen den Überlassungen bezahlt werden. Ersichtlich steht dieser Regelung ein System des Kündigungsschutzes vor Augen, spricht doch Erwägung 15 von einem „besonderen Schutz“ der dadurch gegeben sei (Schrattbauer, Arbeitskräfteüberlassung 15). Abs 3 hingegen kennt keine solche Voraussetzung, fordert aber die Wahrung des „Gesamtschutzes“ der überlassenen AN – dazu hat der EuGH bereits Klarstellungen getroffen (EuGH 15.12.2022, C-311/21, TimePartner, DRdA 2023/28, 267 [zust Mair] = ZAS 2023/48, 256 [zust Dullinger]).
Aus österreichischer Sicht war eine Regelung auf Basis des Abs 2 von vornherein ausgeschlossen: Die Einführung eines Systems des Kündigungsschutzes, sei es auch nur für überlassene Arbeitskräfte, hat niemand jemals ins Auge gefasst. Und überlassene Arbeitskräfte werden zwischen den Einsätzen derart selten bezahlt (lediglich in 4 % 279 der Fälle wird nach dem Ende eines Einsatzes Stehzeitentgelt bezahlt – Riesenfelder/Danzer/Wetzel, Arbeitskräfteüberlassung [2017] 89 [Tabelle 45]), dass die grundsätzlich in § 10 Abs 2 AÜG vorgesehene Entgeltfortzahlung mangels jeder Effektivität europarechtlich bedeutungslos wäre.
Auch aus systematischer Sicht war es konsequent, bei der Umsetzung der RL jede Abweichung von dem strikten, europäischen Equal Pay-Prinzip ausschließlich durch KollV zuzulassen: Die Regelung von Mindestentgelten ganz grundsätzlich den Sozialpartnern zu überlassen, hat sich bewährt. Im Bereich der Leiharbeit sind deren Kräfteverhältnisse durch das Dreiecksverhältnis verzerrt, weshalb ein Eingriff in Form der Verankerung eines gesetzlichen Anspruchs auf ortsüblichen Lohn (§ 10 Abs 1 AÜG) notwendig war und erfolgt ist. Aber der Eingriff wurde so gestaltet, dass Überlasser- Kollektivverträge durch inhaltlich abweichende Regelungen von diesem Anspruch wieder abgehen können (§ 10 Abs 1 Satz 2 AÜG). Eine ähnliche Gestaltung nun auch mit Bezug auf die europäische Rechtslage zu wählen, war nur konsequent. Wobei hier eine ausdrückliche Abdingung durch den KollV – entsprechend den Anforderungen der RL – notwendig ist, aber auch der österreichischen Systematik entspricht: Die Entgeltregelungen des sachnächsten KollV, also insb eines Überlasser- KollV, sind ein zentrales Element zur Bestimmung der ortsüblichen Lohnhöhe, nicht aber der betrieblichen Entgelte. Daher genügt die bloße Existenz von Entgeltregelungen eines Überlasser-KollV, um den Anspruch auf ortsüblichen Lohn zu verdrängen (nicht aber die bloße Existenz eines solchen KollV). Soll jedoch der Anspruch auf betrieblich festgelegte Entgelte beseitigt werden, muss systematisch gesehen vom KollV verlangt werden, dies klar zum Ausdruck zu bringen. Allein der Umstand, dass ein KollV eine Lohntafel enthält, würde dafür nicht genügen.
Dieses Ergebnis entspricht auch dem Ziel der AÜG-Novelle, die ausdrücklich die RL umsetzen, aber die Rechte überlassener Arbeitskräfte nicht mindern, sondern sogar über das zwingende Niveau der RL hinaus erweitern wollte: Das unorthodoxe und scharfe Diskriminierungsverbot (§ 6a AÜG), die Vorwarnfrist bei Beendigung eines Einsatzes (§ 12 Abs 6 AÜG), aber auch der Sozial- und Weiterbildungsfonds (§ 22a ff AÜG) belegen das; um nur einige derartige Änderungen zu nennen. Wollte der Gesetzgeber zulassen, von dem auf Betriebsebene doch aufwändigen und wahrscheinlich eher ineffizienten Equal Pay-Gebot abzurücken, ohne damit das Niveau der RL zu unterschreiten, durfte er nur Art 5 Abs 3 der RL nützen: Mit der vorgeschriebenen Berücksichtigung des Gesamtschutzes stellt dann bereits das europäische Recht sicher, dass ein adäquater Ausgleich erfolgen muss (EuGH Rs TimePartner, DRdA 2023/28, 267 [zust Mair] = ZAS 2023/48, 256 [zust Dullinger]). Und in Kenntnis der Usancen der österreichischen Sozialpartnerschaft durfte der Gesetzgeber darauf vertrauen, dass Gewerkschaften einer Beseitigung des Anspruches auf betriebliche Entgelte nur zustimmen würden, wenn die AG-Seite im Gegenzug einem adäquaten Ausgleich zustimmt. Der Gesetzgeber der AÜG-Novelle 2012 hat also mit gutem Grund und sehr gezielt ausschließlich von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, von der RL gem Art 5 Abs 3 abzuweichen, wie dies der OGH richtig festhält. Allerdings: All diese Überlegungen sprechen andererseits gegen jenes Verständnis von § 10 Abs 1 S 4, welches der OGH ständig seinen Entscheidungen zu Grunde legt!
b) Damit sind wir bei den Konsequenzen der, wie erwähnt, durchaus richtigen Sicht des Höchstgerichts. Die Klarstellung, dass Österreich lediglich die vom 3. Absatz des Art 5 RL gebotene Abweichungsmöglichkeit genutzt hat, macht einerseits die gesetzliche Regelung in sich schlüssig: Sie gilt sowohl für die ganz überwiegend üblichen, unbefristeten Verträge als auch für die ausnahmsweise zulässigen, befristeten Verträge überlassener Arbeitskräfte. Eine Abweichung vom Equal Pay-Prinzip auf Grundlage des Abs 2 des Art 5 RL hätte Letztere nicht erfassen können und wäre mE auch nicht zulässig gewesen.
Andererseits verstärkt aber eben diese Klarstellung jene Bedenken, die von Anfang an gegen die Europarechts-Konformität der Regelung angemeldet wurden: Denn es ist zutreffend, dass den EB zur Novelle entnommen werden kann, dass die Sozialpartner vor Schaffung dieser Gesetzesbestimmung gehört wurden. Aber damit ist nur die formelle Voraussetzung erfüllt. Inhaltlich erlaubt Art 5 Abs 3 RL nur Abweichungen durch Regelungen der Sozialpartner, nicht durch Gesetz (Schörghofer, Gleichbehandlung im AÜG, in Brodil [Hrsg], Diener fremder Herren 47 f). Das aber sieht der strittige Satz 4 des § 10 Abs 1 AÜG nach Auffassung des OGH nicht vor! Er ordne vielmehr generell die Unbeachtlichkeit betrieblicher Entgeltregelungen (ausgenommen solcher in Verbindung mit Arbeitszeit bzw Urlaub) an, sofern nur für die Branche der Arbeitskräfteüberlassung ein KollV und für jene Branche, welcher der Beschäftiger angehört, eine überbetriebliche Entgeltregelung wirksam ist (seit OGH9 ObA 33/13p = DRdA 2014/14, 132 [krit Schrattbauer] = ZAS 2014/12, 76 [zust Wiesinger]). Dass dieser KollV eine Abweichung vom Equal Pay-Prinzip anordnen würde, sei nicht gefordert; selbst lange vor der Schaffung der RL abgeschlossene Kollektivverträge sollen die gerade beschriebene Wirkung haben, obwohl deren Parteien keinesfalls den Willen haben konnten, von einem noch gar nicht existierenden Equal Pay-Prinzip abzuweichen! Die jüngsten Debatten rund um § 1159 ABGB (vgl den, vom VfGH verworfenen „Hilferuf“ des OGH: 9 ObA 38/23p DRdA-infas 2024/57, 144) zeigen deutlich, in welch unsinnige und unnötige Kalamitäten es führt, vor langer Zeit abgeschlossenen Kollektivverträgen einen Inhalt zuzuschreiben – dort die Abdingung der gesetzlichen Kündigungsregelungen –, der zur Zeit ihres Abschlusses nie vereinbart worden sein konnte (vgl im Detail Schindler, KV-Interpretation, in FS Löschnigg [2019] 347). Von der, von der RL geforderten Bedachtnahme auf den Gesamtschutz überlassener AN kann dann natürlich erst recht keine Rede sein! 280
c) Auch das Ziel, das die RL mit der Ermächtigung verfolgt, wird bei weitem verfehlt, wenn man „alte“ Kollektivverträge plötzlich kraft Gesetzes zum Urheber der Beseitigung von Gleichstellungsansprüchen macht. Denn sie zielt ja ausdrücklich darauf, dass die durch nationales Gesetz dazu ermächtigten Kollektivverträge ausgewogene Regeln vorsehen, die zwar von den strikten und zT verwaltungsaufwändigen Anordnungen der RL abgehen können, aber einen hochwertigen Schutz der sozial besonders verwundbaren Arbeitskräfte auf anderem, besseren Weg doch gewährleisten. Wie könnten Kollektivverträge das, die Jahre, ja Jahrzehnte vor der RL vereinbart wurden? Man kann es drehen und wenden, wie man will: So wie der OGH § 10 Abs 1 Satz 4 AÜG deutet, ermächtigt diese Bestimmung keineswegs die Kollektivvertragsparteien zu Abweichungen von Art 5 Abs 1 RL, sondern beseitigt das Equal Pay-Prinzip hinsichtlich betrieblicher Entgelte selbst. Wie Mair (DRdA 2023, 267, 272) präzise formuliert: Die Regelung nimmt den Kollektivvertragsparteien jenen regulatorischen Raum, den ihnen Art 5 Abs 3 RL gerade geben will.
d) Die Formel des OGH, die Sozialpartner hätten es ja „in der Hand, die in der Ausnahmebestimmung des § 10 Abs 1 AÜG vorgesehenen kollektivvertraglichen Instrumentarien zu schaffen oder nicht
“ (OGH8 ObA 50/14g DRdA 2015/32, 250 [krit Felten] = ZAS 2015/52, 315 [Schörghofer] = wbl 2015/10, 38 [Schrattbauer]), verkehrt die Anordnung der RL in ihr Gegenteil: Nicht die Sozialpartner können demnach vom Equal Pay-Prinzip abgehen, das tut schon der Gesetzgeber, sondern sie könnten es wieder herstellen – wenn sie ihre bestehenden Kollektivverträge beenden! Aber gerade, ob sie überhaupt von der RL abweichen wollen, das Ausmaß der Abweichung und entsprechende Ausgleichsmaßnahmen müssten die Sozialpartner gem der RL selbst festlegen! Die Auffassung des OGH bedeutet, dass es ihnen untersagt ist, überhaupt einen KollV abzuschließen, bei Strafe des sonstigen Verlusts des Anspruches auf Bezahlung auf dem Niveau genereller betrieblicher Entgeltregeln! Der Tarifautonomie (Art 28 GRC) wird so jedenfalls kein Spielraum eröffnet, wie es die RL mit dieser Regelung aber bezweckt (Mair, DRdA 2023, 267, 271 mwH). ME sehr zu Recht beurteilt die Lehre ganz überwiegend (Dullinger, ZAS 2023, 256, 261; Mair, DRdA 2023/28, 267; Mazal, ecolex 2013, 102; Schindler in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm4 § 10 AÜG Rz 29; Schörghofer, ZAS 2015, 315, 319; Schrattbauer/Goricnik, DRdA 2013, 282, 284 ua) die so verstandene Regelung als richtlinienwidrig. Und sie wäre auch innerhalb der durch § 10 AÜG etablierten Gestaltung systemwidrig. Vielleicht ist angesichts all dessen trotz des Wortlauts und der Entstehungsgeschichte eine richtlinienkonforme Auslegung möglich, welche die „Geltung“ in Satz 4 teleologisch auf gegebenenfalls abweichende Normen eines Überlasser-KollV beschränkt, wie in § 10 Abs 1 Satz 2 AÜG? Dann würde nicht die schiere Existenz eines KollV, gleich welchen Inhalts, sondern nur dessen gegebenenfalls ausdrücklich abweichende Normen die Geltung betrieblicher Entgeltregelungen des Beschäftigers ausschließen, sofern auch dieser von überbetrieblichen Entgeltregeln erfasst wird. Ist eine solche Auslegung ausgeschlossen, wären Staatshaftungsansprüche die Folge. Bei der Beurteilung der Rechtsfolgen der Richtlinienwidrigkeit wird auch zu beachten sein, dass die RL eine Konkretisierung der Art 20 und 31 GRC darstellt (Erwägung 1, 12 der RL). Der fragliche Satz 4 des § 10 AÜG könnte ferner eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft bewirken (Art 21 GRC) und dann auch vom VfGH aufgehoben werden (vgl Köchle in Holoubek/Lienbacher [Hrsg], GRC2 Art 21 Rz 38 mwH).
e) Jedenfalls ist es seit Ergehen der EuGH-E TimePartner (DRdA 2023/28, 267 [zust Mair] = ZAS 2023/48, 256 [zust Dullinger]) noch dringlicher, dass zur Herstellung der Rechtssicherheit für alle Seiten endlich ein österreichisches Gericht die Frage der Richtlinienkonformität des § 10 Abs 3 S 4 AÜG dem EuGH zur Entscheidung vorlegt: Bis zu dieser Klärung ist den Gerichten eine konkrete Prüfung des „Gesamtschutzes“ überlassener Arbeitskräfte in jedem Einzelfall auferlegt; eine sehr aufwändige Vorgangsweise, die zudem mit hoher Rechtsunsicherheit verbunden ist (Dullinger, ZAS 2023/48, 256, 262 f). Der OGH, gegebenenfalls auch der VwGH, sind mE gem Art 267 AEUV spätestens seither zur Vorlage verpflichtet. 281