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Mehrfache geringfügige Beschäftigungen begründen Tätigkeitsschutz iSd § 255 Abs 4 ASVG

LEONIE OBERMEYR (SALZBURG)

Zeiten mehrerer geringfügiger Beschäftigungen über der Geringfügigkeitsgrenze werden für den Tätigkeitsschutz nach § 255 Abs 4 ASVG mitberücksichtigt.

„[...]

[2] Der im Jahr 1961 geborene Kl erwarb in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag neun Versicherungsmonate als selbständiger Tischler nach dem GSVG, fünf Monate als unselbständiger Tischler nach dem ASVG, 15 Versicherungsmonate als Vollversicherter aufgrund mehrfacher geringfügiger Beschäftigung nach dem ASVG, nämlich aufgrund einer geringfügigen Beschäftigung als Tischler und aufgrund einer weiteren geringfügigen Beschäftigung als Hausbesorger. Zusätzlich erwarb er 104 Versicherungsmonate bis zum Stichtag 1.9.2022 bzw 107 Versicherungsmonate bis 30.11.2022 als ungelernter Haus- und Gebäudebetreuer, wobei etwa 10 % seiner Tätigkeit Tischlerarbeiten waren. [3] Dem Kl ist die Tätigkeit als Hausbesorger nicht mehr zumutbar. Der Kl ist unter der Annahme eines Tätigkeitsschutzes auch nicht mehr verweisbar.

[4] Berufsschutz als Tischler besteht unstrittig nicht.

[5] Mit Bescheid vom 7.11.2022 lehnte die Bekl den Antrag des Kl vom 31.8.2022 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab und sprach weiters aus, dass kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation bestehe.

[6] Mit seiner Klage begehrt der Kl die Gewährung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.9.2022. Aufgrund seiner Leiden sei er invalid. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag habe er mehr als 120 Kalendermonate als Hausverwalter/ Hausmeister gearbeitet, weshalb ein Tätigkeitsschutz gem § 255 Abs 4 ASVG bestehe.

[7] Die Bekl hielt dem entgegen, dem Kl komme kein Berufsschutz zu. Sein Leistungskalkül reiche aus, um die bisherigen Tätigkeiten und diverse Verweisungstätigkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Invalidität liege nicht vor.

[8] Das Erstgericht wies die Klage ab. Es lägen keine 120 Versicherungsmonate einer Tätigkeit in den letzten 180 Monaten vor, weshalb § 255 Abs 4 ASVG nicht zum Tragen komme. Selbst wenn infolge der mehrfachen geringfügigen Beschäftigungen eine Beitragszeit für die PV erworben worden sei, habe der Kl die geringfügige Beschäftigung als Hausmeister nicht überwiegend ausgeübt. Da der Kl zumindest noch eine Verweisungstätigkeit ausüben könne, liege Invalidität nicht vor.

[9] Das Berufungsgericht gab der dagegen vom Kl erhobenen Berufung teilweise Folge, änderte das angefochtene Urteil teilweise ab und sprach aus, dass der Kl dem Grunde nach Anspruch auf Gewährung einer Invaliditätspension ab 1.11.2022 habe. [...] Bei paralleler Ausübung mehrerer Tätigkeiten sei die Gesamttätigkeit maßgebend, sodass die geringfügigen Beschäftigungen als Hausbetreuer und Tischler einerseits und die Tätigkeit als Hausbetreuer, der auch Tischlerarbeiten verrichtete, andererseits als „eine Tätigkeit“ iSd § 255 Abs 4 ASVG anzusehen seien. Die Voraussetzung der Ausübung dieser einen Tätigkeit in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag in mindestens 120 Kalendermonaten sei jedoch erst mit November 2022 erfüllt.

[10] Die Revision ließ das Berufungsgericht mit der Begründung zu, der OGH habe zur Frage, ob Zeiten einer mehrfach geringfügigen Beschäftigung als Zeiten einer Tätigkeit iSd § 255 Abs 4 ASVG anzusehen seien, noch nicht ausdrücklich Stellung genommen. [...]

[13] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.

[14] 1.1. Als invalid gilt gem § 255 Abs 4 Satz 1 ASVG der (die) Versicherte, der (die) das 60. Lebensjahr vollendet hat, wenn er (sie) infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande ist, einer Tätigkeit, die er (sie) in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Kalendermonate hindurch ausgeübt hat, nachzugehen.

[15] Dabei handelt es sich nicht um einen Arbeitsplatzschutz, sondern um eine – besondere – Form des Berufsschutzes (10 ObS 367/02x ua), dies iS eines „Tätigkeitsschutzes“ (RS0087658 [T3, T4]; 10 ObS 71/14k). [...]

[16] 1.2. Die Rsp legt an das Kriterium der „einen Tätigkeit“ keine allzu strengen Maßstäbe an und versteht das Wort „eine“ nicht als Zahlwort. Vielmehr können mehrere, unter Bedachtnahme auf die wesentlichen Tätigkeitselemente (den „Kernbereich“) sehr ähnliche Tätigkeiten zu „einer Tätigkeit“ zusammengefasst werden (RS0117063 [T2]). 305

[17] 1.3. Auch dann, wenn mehrere Tätigkeiten parallel ausgeübt werden, ist für die Charakterisierung der „einen Tätigkeit“ iSd § 255 Abs 4 ASVG die Gesamttätigkeit maßgeblich (RS0125929). [...]

[19] 2.2. § 255 Abs 4 ASVG differenziert nicht nach der Höhe des vom Versicherten für seine Tätigkeit erzielten Entgelts oder nach dem Ausmaß der Tages- oder Wochenarbeitszeit für diese Beschäftigung, somit ob diese in Vollzeit oder in Teilzeit ausgeübt wurde (10 ObS 18/10k [ErwGr 3.4] = RS0085103 [T2]).

[20] 2.3. Der Gesetzgeber setzt aber auch im Anwendungsbereich des § 255 Abs 4 ASVG [...] das Vorliegen einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit als selbstverständlich voraus (10 ObS 135/22h Rz 37 unter Verweis auf 10 ObS 44/21z Rz 30). [...] Auch im Anwendungsbereich des § 255 Abs 4 ASVG können somit Beitragsmonate der freiwilligen Versicherung (wie zB der Selbstversicherung gem § 19a ASVG), die nicht die Pflichtversicherung nach dem ASVG begründen, nicht als Monate gewertet werden, in denen die versicherte Person eine „Tätigkeit“ iSd § 255 Abs 4 Satz 1 ASVG ausgeübt hat (10 ObS 135/22h Rz 38).

[21] 2.4. Im hier vorliegenden Fall war der Kl aber aufgrund mehrfacher geringfügiger Beschäftigungen nach dem ASVG (§ 5 Abs 1 Z 2) im betreffenden Zeitraum auch in der PV pflichtversichert. Die nötige Einbindung in das System der PV liegt somit auch für diese Beitragszeiten vor, weshalb diese Zeiten nach § 255 Abs 4 ASVG zu berücksichtigen sind.

[22] 3.1. Die Rsp, wonach unter dem Begriff der „einen“ Tätigkeit nicht nur eine einzige (einheitliche) Tätigkeit zu verstehen ist, sondern auch bei mehreren ausgeübten Tätigkeiten – unter Bedachtnahme auf die wesentlichen Tätigkeitselemente (den Kernbereich) – sehr ähnliche Tätigkeiten zu einer Tätigkeit zusammengefasst werden können (RS0117063 [T2]), ist für den hier vorliegenden Fall, wo beide Tätigkeiten, nämlich sowohl die Tätigkeit als Tischler als auch jene als Hausbesorger über den nötigen Zeitraum hinweg parallel ausgeübt wurden, nicht einschlägig. Es kommt somit auch entgegen der Ansicht der Revision nicht darauf an, ob die beiden Tätigkeiten miteinander vergleichbar sind oder die wesentlichen Tätigkeitselemente der verrichteten Tätigkeiten übereinstimmen (vgl dazu mwN 10 ObS 143/06m), wurden doch diese nicht nacheinander oder abwechselnd, sondern stets beide gleichzeitig ausgeübt und sind somit die Tätigkeit als Tischler und die Tätigkeit als Hausbesorger sowie in der Folge die Tätigkeit als Hausbesorger, der auch teilweise Tischlerarbeiten verrichtete, als eine Gesamttätigkeit iSd § 255 Abs 4 ASVG (vgl RS0117063 [T10]) anzusehen.

[23] 3.2. Dies steht auch in Einklang mit der E 10 ObS 18/10k. Im dortigen Fall lag bei Charakterisierung der Gesamttätigkeit der zeitliche und arbeitsumfängliche Schwerpunkt der „kombinierten“ Tätigkeit ganz eindeutig bei der Nicht-Hausbesorgertätigkeit und konnte aus der umfänglich nur zu einem kleinen Teil gleichen Tätigkeit (nämlich als Hausbesorger) nicht abgeleitet werden, dass zwei völlig verschiedene Haupttätigkeiten, die nicht parallel verrichtet wurden, nämlich die Tätigkeit als Elektrohelfer und Hausbesorger mit der zu anderen Zeiten ausgeübten Tätigkeit als Maler(gehilfe) und Hausbesorger als „eine Tätigkeit“ iSd § 255 Abs 4 ASVG anzusehen wäre. Im dortigen Fall erreichte die jeweils zusammen zu zählende Gesamttätigkeit aber nicht die nötige Dauer von 120 Kalendermonaten.

[24] 3.3. Dem Kl ist nach den Feststellungen die Tätigkeit als Hausbesorger nicht mehr zumutbar und ist er unter der Annahme eines Tätigkeitsschutzes auch nicht mehr verweisbar. Dass der Kl noch auf Tätigkeiten als Tischler verweisbar wäre, behauptet die Revision nicht; zudem wäre Voraussetzung für die Verweisbarkeit auf eine (auf dem Arbeitsmarkt nachgefragte) Teiltätigkeit der bisherigen Tätigkeit, dass dieser Teiltätigkeit weder nach der Gewichtung im Arbeitsverlauf noch nach ihrem zeitlichen Umfang nur eine untergeordnete Bedeutung in der bisher ausgeübten „einen“ Tätigkeit zugekommen ist (RS0100022 [T13, T33]). Da die Tischlerarbeit seit 2011 nur etwa 10 % der gesamten Tätigkeit betrug, käme somit eine Verweisung in diesem Bereich ohnehin nicht in Frage. [...]“

ANMERKUNG

In der vorliegenden E befasste sich der OGH mit der Frage, ob mehrere geringfügige Beschäftigungen den Begriff der „einen Tätigkeit“ gem § 255 Abs 4 ASVG erfüllen können und diese Zeiten dementsprechend als Versicherungsmonate zur Erlangung des Tätigkeitsschutzes gelten. Die Frage bejahte er überzeugendermaßen.

1.
Allgemeines

Um eine Invaliditätspension in Anspruch nehmen zu können, müssen Arbeiter:innen invalid sein. Gelernte und angelernte Arbeiter:innen genießen einen ähnlichen Berufsschutz wie Angestellte. Waren sie überwiegend in gelernten bzw angelernten Berufen tätig, so gelten sie dann als invalid, wenn ihre Arbeitsfähigkeit auf weniger als die Hälfte einer gesunden Person mit ähnlicher Ausbildung, Fähigkeiten und Kenntnissen herabsinkt (§ 255 Abs 1 ASVG). Ungelernte Arbeiter:innen haben keinen Berufsschutz und sind demnach grundsätzlich auf den gesamten Arbeitsmarkt verweisbar (§ 255 Abs 3 ASVG). Jedoch gebührt allen Arbeiter:innen, die das 60. Lebensjahr bereits vollendet haben, unter den in § 255 Abs 4 ASVG normierten Voraussetzungen der sogenannte Tätigkeitsschutz. Er besagt, dass Versicherte auch dann als invalid gelten, wenn sie in den letzten 180 Monaten vor dem Stichtag mindestens 120 Monate eine (maW: die gleiche) Tätigkeit ausgeübt haben und nicht mehr im Stande sind, dies weiter zu tun. Der OGH war nun damit befasst zu beurteilen, ob Zeiten mehrerer – parallel ausgeübter – geringfügiger Beschäftigungen zu diesen 120 Monaten zählen und dadurch den Tätigkeitsschutz auslösen können. 306

2.
Tätigkeitsschutz

Der Tätigkeitsschutz ist eine besondere Ausprägung des Berufsschutzes und soll älteren und darunter wiederum vor allem auch ungelernten Arbeiter:innen zugutekommen und für diese die sonst sehr hohen Hürden beim Zugang zu einer Invaliditätspension verringern. Es geht also darum, binnen der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag zehn Jahre lang die gleiche Tätigkeit ausgeübt zu haben. Der Wortlaut des § 255 Abs 4 ASVG spricht von einer Tätigkeit. Die stRsp vertritt hierzu, dass es sich in diesem Kontext nicht um ein Zahlwort handelt. Es sollen nicht allzu strenge Maßstäbe an den Begriff gelegt werden, zumal der Gesetzgeber hier nicht von einer „gleichen oder gleichartigen“ Tätigkeit ausgegangen sei und die dazu ergangene Judikatur nicht uneingeschränkt übernommen werden könne (RIS-Justiz RS0117063). Auch fallen zumutbare Änderungen dieser Tätigkeit nicht ins Gewicht. Die berufliche Weiterentwicklung iS eines beruflichen Aufstiegs soll daher nicht von vornherein den Ausschluss des Tätigkeitsschutzes bewirken (OGH 5.2.2008, 10 ObS 1/08g). Nicht umfasst ist aber eine gänzliche Änderung der Tätigkeit bzw der Branche.

Eine Tätigkeit muss zudem nicht als eine einzige Tätigkeit verstanden werden. Auch mehrere ausgeübte Tätigkeiten können den Begriff erfüllen, soweit sie sich unter Bedachtnahme auf deren Kernelemente bzw wesentliche Tätigkeitselemente sehr ähnlich sind (OGH 26.11.2002, 10 ObS 352/02s). MaW: Stimmen unterschiedliche Tätigkeiten in einem Kernbereich überein, der sich von jenem anderer Tätigkeiten abgrenzen lässt, dann ist von einer Tätigkeit gem § 255 Abs 4 ASVG auszugehen (siehe mwN Födermayr/Resch in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 255 ASVG Rz 171 [Stand 1.3.2020, rdb.at]). So wurde beispielsweise schon entschieden, dass sich ein Landwirt, der auch Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters ausübte, auf den Tätigkeitsschutz berufen kann (OGH 27.5.2008, 10 ObS 63/08z).

3.
Mehrere geringfügige Beschäftigungen als „eine Tätigkeit“

In vorliegendem Fall hatte der Kl unstrittig 104 bzw 107 Versicherungsmonate als ungelernter Hausbetreuer, der zu 10 % auch Tischlerarbeiten durchführte, erworben. Zudem konnte er einerseits 14 Versicherungsmonate als selbständiger und unselbständiger Tischler und andererseits 15 Versicherungsmonate aufgrund einer Vollversicherung wegen mehrerer geringfügiger Beschäftigungen vorweisen. Bei den geringfügigen Beschäftigungen handelte es sich um ein Beschäftigungsverhältnis als Tischler und ein zweites Beschäftigungsverhältnis als Hausbetreuer. Das Erstgericht dürfte die Zeiten der vollversicherungspflichtigen Beschäftigung als Tischler nicht berücksichtigt haben, zumal die Summe der Versicherungsmonate reiner Tischlereitätigkeit sowieso nicht die 120 Monate erreicht hätten bzw diese Aufgaben in der Hausbetreuertätigkeit nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Zudem ist anzunehmen, dass das Erstgericht die auf die geringfügigen Tätigkeiten zurückgehenden Versicherungszeiten mangels Erfüllens des einheitlichen Tätigkeitsbegriffes ebenso nicht berücksichtigte. Das Berufungsgericht schloss sich zumindest hinsichtlich letzter Aussage nicht dem Erstgericht an.

Um die Frage, ob die parallel ausgeübten geringfügigen Beschäftigungen eine Tätigkeit iSd § 255 Abs 4 ASVG darstellen können, zu beantworten, müssen mE zwei Dimensionen unterschieden werden: Einerseits muss geprüft werden, ob § 255 Abs 4 ASVG in irgendeiner Art auf das wöchentliche Zeitausmaß oder generell auf das Vorliegen eines Vollversicherungsverhältnisses (§ 4 ASVG) abstellt. Zweitens muss inhaltlich geklärt werden, ob die Kernelemente der Tätigkeiten zueinander passen.

3.1.
Versicherungsrechtliche Dimension

Schon vorweg kann festgehalten werden, dass § 255 Abs 4 ASVG nicht auf Art oder Ausmaß der Beschäftigung abstellt. Dies hat auch der OGH in vorliegender E mit Verweis auf bisher ergangene Judikatur bestärkt (Rz 19 bzw auch OGH 1.6.2010, 10 ObS 18/10k). Es können also sowohl Voll- als auch Teilzeitbeschäftigte den Tätigkeitsschutz erwerben; nicht hingegen sind geringfügig Beschäftigte erfasst. Diese sind gem § 5 Abs 1 Z 2 ASVG nicht voll- und damit auch nicht in der PV pflichtversichert.

Für geringfügig Beschäftigte gibt es ua die Möglichkeit, sich nach § 19a ASVG in der KV und PV freiwillig selbst zu versichern. Diese Zeiten werden aber, so hat der OGH erst kürzlich entschieden, nicht für den Tätigkeitsschutz nach § 255 Abs 4 ASVG berücksichtigt, zumal jegliche Einbindung in die PV fehle, da Zeiten der freiwilligen Versicherung nur als Beitrags- und nicht als Beschäftigungsmonate zählen (OGH 25.4.2023, 10 ObS 135/22h, zurecht krit DRdA 2024/7, 57 [Müller]).

In diesem Fall aber übte der Kl zwei geringfügige Beschäftigungen parallel aus. In Summe überschritten diese wohl unstrittig die Geringfügigkeitsgrenze, sodass der Kl während dieser Zeit vollversichert war (Rz 2). Dies hielt der OGH nun konsequenterweise auch für eine ausreichende Einbindung in die PV. Ein gegenteiliges Ergebnis wäre in Zusammenschau mit der vorher ergangenen E (OGH 25.4.2023, 10 ObS 135/22h) wohl grob systemwidrig gewesen. Grundsätzlich können daher mehrere geringfügige Beschäftigungen – über der Geringfügigkeitsgrenze und daher im Rahmen einer umfassenden Pflichtversicherung – jedenfalls eine Tätigkeit gem § 255 Abs 4 ASVG darstellen.

3.2.
Inhaltliche Dimension

Zu dieser rein versicherungsrechtlichen Komponente muss nun auch noch die inhaltliche Dimension der jeweiligen Tätigkeiten berücksichtigt werden. Dafür ist immer eine Einzelfallbeurteilung notwendig (vgl ua OGH 27.5.2008, 10 ObS 63/08z). Die bisherige Judikatur ging – wie bereits beschrieben – davon aus, dass mehrere Beschäftigungen 307 innerhalb des gesetzlich normierten Beobachtungszeitraums von 180 Monaten dann als eine Tätigkeit gelten, wenn diese in ihrem Kernbereich sehr ähnlich sind (RIS-Justiz RS0117063). Im vorliegenden Fall waren diese Überlegungen aber für den OGH nicht einschlägig. Begründet wurde dies damit, dass der Kl beide Tätigkeiten gleichzeitig und nicht nacheinander oder abwechselnd verrichtet hat. Dh, er betrachtet im vorliegenden Fall die beiden, an sich voneinander getrennten Beschäftigungsverhältnisse – einmal als Tischler und einmal als Hausbetreuer – als eine Gesamtheit, die im konkreten Fall auch der nachfolgenden vollversicherten Tätigkeit entspricht, in der er als ungelernter Hausbetreuer tätig war, dabei aber auch Tischlertätigkeit in geringem Ausmaß (10 %) erbrachte. In dieser Hinsicht ist dem OGH beizupflichten, dass sich die mehrfache geringfügige Beschäftigung (in ihrer Gesamtheit) und die vollversicherte Tätigkeit als Ausübung „einer“ Tätigkeit iSd § 255 Abs 4 ASVG qualifizieren lassen.

Die zentralen Ausführungen des OGH in den Rz 22 und 23 des vorliegenden Urteils lassen dennoch Fragen offen. Besonders fraglich ist, wie andere Sachverhalte auf Basis dieser Judikatur zu beurteilen sind, in denen mehrere geringfügige Beschäftigungen, die sich stärker voneinander unterscheiden oder gar nicht überschneiden, eingegangen wurden. Aus der vorliegenden E geht nämlich nicht klar hervor, in Bezug auf welche Tätigkeiten bzw Zeiträume dem OGH zufolge die Gesamttätigkeit zu prüfen ist, spricht er doch in Rz 22 davon, dass „beide Tätigkeiten [...] stets gleichzeitig ausgeübt (wurden) und somit die Tätigkeit als Tischler und die Tätigkeit als Hausbesorger sowie in der Folge die Tätigkeit als Hausbesorger, der auch teilweise Tischlerarbeiten verrichtete, als eine Gesamttätigkeit [...] anzusehen (sind)“. Würde man aus der E den Schluss ziehen, dass der OGH die Gesamttätigkeit über den gesamten Zeitraum der ausgeübten Tätigkeiten geprüft hätte, so hätte dies zur Folge, dass jedes rein inhaltlich einschlägige geringfügige Beschäftigungsverhältnis, das kombiniert mit einem nicht einschlägigen geringfügigen Beschäftigungsverhältnis ausgeübt wurde, unabhängig vom zeitlichen Ausmaß für den Tätigkeitsschutz mitberücksichtigt würde. Dieses Ergebnis kann der OGH aber wohl nicht gewollt haben. Vielmehr muss die Entscheidung mE wie folgt verstanden werden:

Schon in OGH 1.6.2010, 10 ObS 18/10k sprach das Gericht aus, dass bei mehreren parallel ausgeübten Tätigkeiten (beispielsweise eine Beschäftigung in Teilzeit und eine geringfügige Beschäftigung) für die Charakterisierung der Gesamttätigkeit der „zeitliche und arbeitsumfängliche Schwerpunkt“ dieser „kombinierten Tätigkeiten“ geprüft werden müsse. Tätigkeiten, die ein deutlich untergeordnetes Ausmaß im Verhältnis zu der anderen Tätigkeit einnehmen, seien in Bezug auf den Tätigkeitsschutz dann nicht mitzuberücksichtigen. Nichts anderes kann in vorliegendem Fall gelten: Hier übte der Kl zwar zwei sehr ähnliche Tätigkeiten aus, die dann in ihrer Gesamtheit als dieselbe Tätigkeit zu werten waren wie im Rahmen der anschließend ausgeübten vollversicherten Beschäftigung. Hätte aber das zusätzlich zur Hausbetreuung eingegangene geringfügige Beschäftigungsverhältnis eine Tätigkeit mit anderem Kernbereich (etwa als Kellner oä) betroffen, so wären die Zeiten des inhaltlich einschlägigen Dienstverhältnisses wohl nicht mitzurechnen, da dieses für sich betrachtet zwar inhaltlich dieselbe Tätigkeit wie die ansonsten ausgeübte (vollversicherte) Beschäftigung zum Inhalt hat, jedoch die Geringfügigkeitsgrenze nicht übersteigen und für sich genommen auch keine Pflichtversicherung auslösen würde. Es würde wohl nicht dem Sinn und Zweck des § 255 Abs 4 ASVG entsprechen, wenn im Beobachtungszeitraum jedes zwar inhaltlich einschlägige aber zeitlich nur sehr untergeordnete bzw geringfügig ausgeübte Beschäftigungsverhältnis zur Begründung des Tätigkeitsschutzes mitberücksichtigt würde.

Daraus lässt sich schließen, dass es bei mehrfacher geringfügiger Beschäftigung auf die sich aus den einzelnen Beschäftigungsverhältnissen ergebende Gesamttätigkeit ankommt. Nur wenn sich die geringfügigen Dienstverhältnisse in ihrer Gesamtheit als „eine“ Tätigkeit im Verhältnis zu weiteren im Beobachtungszeitraum ausgeübten Tätigkeiten erweisen sowie insgesamt die Geringfügigkeitsgrenze übersteigen und damit die Pflichtversicherung auslösen, können diese als Zeiten für den Tätigkeitsschutz mitgezählt werden. Offen bleibt, wie die Lage zu beurteilen wäre, wenn etwa drei geringfügigen Beschäftigungen nachgegangen wird, von denen zwei die soeben genannten Kriterien erfüllen. ME würde es in diesem Fall darauf ankommen, ob die Geringfügigkeitsgrenze auch unter Außerachtlassung des geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses mit nicht einschlägiger Tätigkeit überschritten worden wäre.

4.
Fazit

Zur Beantwortung der Frage, ob mehrere geringfügige Beschäftigungen den Begriff der „einen Tätigkeit“ zur Erreichung des Tätigkeitsschutzes nach § 255 Abs 4 ASVG erfüllen können, kommt es auf zwei Faktoren an: Erstens müssen die Zeiten der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse die Geringfügigkeitsgrenze übersteigen und damit eine Pflichtversicherung in der PV auslösen, um als Teil der 120 notwendigen Versicherungsmonate gewertet zu werden. Zweitens müssen sich die Tätigkeiten auch inhaltlich ähneln. Dabei geht die Rsp grundsätzlich davon aus, dass zur Charakterisierung der Gesamttätigkeit eine Überschneidung der Kernbereiche der Tätigkeiten vorliegen muss. In vorliegendem Fall musste dies aufgrund der Ähnlichkeit der vom Kl ausgeübten Beschäftigungen nicht geprüft werden. Es ist davon auszugehen, dass bei mehrfachen geringfügigen Dienstverhältnissen zunächst die Frage zu beantworten ist, ob diese für sich schon eine Gesamttätigkeit darstellen. Nur wenn das der Fall ist, werden diese als Zeiten für den Tätigkeitsschutz mitberücksichtigt werden können. 308