103Fortbezug des Arbeitslosengeldes nach Leistungsexport ins EU-Ausland und verspäteter Rückkehr
Fortbezug des Arbeitslosengeldes nach Leistungsexport ins EU-Ausland und verspäteter Rückkehr
Die Mitbeteiligte bezog von 7.7.2018 bis 27.6.2019 mit Unterbrechungen Arbeitslosengeld. Am 21.3.2019 gab die Mitbeteiligte dem Arbeitsmarktservice (AMS) bekannt, sich ab 27.3.2019 nach „Kos, Griechenland“ zu begeben, und wurde darüber informiert, dass sie sich zur Wahrung ihres Leistungsanspruches bei jeder vorzeitigen Rückkehr nach Österreich bzw spätestens am ersten Werktag nach Ablauf des für den Zeitraum von 28.3. bis zum 27.6.2019 genehmigten Leistungsexports zwecks Weitergewährung der Leistung beim AMS zurückmelden müsse; andernfalls würde sie alle Ansprüche auf Arbeitslosengeld und Notstandshilfe verlieren. Die Mitbeteiligte meldete sich daraufhin beim zuständigen Arbeitsamt in „Griechenland, Insel Kos“ arbeitssuchend. Am 27.6.2019 teilte die Mitbeteiligte dem AMS über ihr eAMS-Konto mit, dass sie den für den 28.6.2019 vereinbarten Termin nicht wahrnehmen werde; sie habe sich entschieden, weiterhin im Ausland zu bleiben und dort auf eigene Faust einen Job zu suchen. Das AMS stornierte noch am selben Tag den Termin am 28.6.2019 und meldete die Mitbeteiligte mit diesem Datum „vom AMS ab“. Am 18.11.2019 reichte die Mitbeteiligte online eine Arbeitslosmeldung und einen Antrag auf Arbeitslosengeld ein.
Mit Bescheid vom 27.11.2019 wies die revisionswerbende regionale Geschäftsstelle des AMS den Antrag der Mitbeteiligten auf (Wieder-)Gewährung von Arbeitslosengeld nach einem Auslandsaufenthalt in Griechenland gem Art 64 Abs 1 lit c und Abs 2 VO 883/2004 ab.
Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das BVwG der Beschwerde der Mitbeteiligten statt und erkannte Arbeitslosengeld ab 18.11.2019 zu. Zur rechtlichen Beurteilung führte das BVwG insb aus, das AMS habe es im Bescheid sowie in der Beschwerdevorentscheidung unterlassen, sich mit der ebenfalls in Art 64 VO 883/2004 normierten Anordnung zu befassen, wonach kein Verlust des Leistungsanspruches eintrete, wenn nationale Rechtsvorschriften eine günstigere Regelung vorsähen. § 16 Abs 1 lit g sowie § 19 Abs 1 AlVG stellten solche für die Mitbeteiligte günstigere Regelungen dar:
Gem § 16 Abs 1 lit g AlVG ruhe der Anspruch auf Arbeitslosengeld während des Aufenthaltes im Ausland, soweit nicht Abs 3 oder Regelungen aufgrund internationaler Verträge anzuwenden seien. Anders als der gänzliche Verlust eines Anspruches führe das Ruhen des Anspruches lediglich dazu, dass die arbeitslose Person während des Ruhens keine Leistung beziehen dürfe. Darüber hinaus sei auf den vorliegenden Fall die Bestimmung des § 19 Abs 1 AlVG anwendbar. Nach dieser Bestimmung sei Arbeitslosen, die ihren Arbeitslosengeldanspruch „in der gem § 18 AlVG zuerkannten Dauer nicht bis zur Höchstdauer in Anspruch genommen und somit nicht zur Gänze ausgeschöpft
“ hätten, der Fortbezug für die restliche, verbliebene Anspruchsdauer zu gewähren, wenn die Geltendmachung innerhalb eines Zeitraumes von fünf Jahren, gerechnet vom Tag des letzten Bezuges des Arbeitslosengeldes, erfolge und wenn, abgesehen von der Anwartschaft, die Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erfüllt seien. Um die Anspruchsvoraussetzungen für den Fortbezug des Arbeitslosengeldes nach dessen Ruhen während des Aufenthalts im Ausland zu erfüllen, bedürfe es einer neuerlichen Geltendmachung seitens der Mitbeteiligten. Durch die neuerliche Geltendmachung am 18.11.2019 seien die Voraussetzungen für den Fortbezug des Arbeitslosengeldes ab diesem Zeitpunkt gegeben gewesen. An anderer Stelle seiner rechtlichen Beurteilung hält das BVwG dagegen fest, die Mitbeteiligte habe „ihren Anspruch auf Notstandshilfe […] am 18.11.2019 und somit innerhalb von fünf Jahren ab Erschöpfung ihres Anspruches auf Arbeitslosengeld (mit 27.06.2019) geltend gemacht
“.
Da das österreichische Recht in § 16 Abs 1 lit g und § 19 Abs 1 AlVG somit günstigere Regelungen als in Art 64 VO 883/2004 vorsehe, hätte das AMS den Antrag der Mitbeteiligten auf Arbeitslosengeld vom 18.11.2019 nicht abweisen dürfen, sondern feststellen müssen, dass trotz des in Art 64 Abs 2 VO 883/2004 normierten Verlusttatbestandes aufgrund der günstigeren nationalen Regelungen kein Verlust des Leistungsanspruches der Mitbeteiligten eingetreten sei. Da sämtliche Anspruchsvoraussetzungen für den Fortbezug erfüllt seien, gebühre der Mitbeteiligten Arbeitslosengeld ab dem Tag der (neuerlichen) Geltendmachung, sohin ab 18.11.2019.
Die Revision erklärte das BVwG gem Art 133 Abs 4 B-VG für zulässig, weil es an Rsp des VwGH zur Frage fehle, ob § 16 Abs 1 lit g AlVG und/oder § 19 Abs 1 AlVG günstigere Regelungen als Art 64 Abs 2 VO 883/2004 darstellten.
Das durch ordentliche Revision vonseiten des AMS angefochtene Erkenntnis wurde vom VwGH wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der VwGH weist begründend darauf hin, dass ein Fortbezug des Arbeitslosengeldes gem § 19 Abs 1 AlVG – ungeachtet der Frage, ob das österreichische Recht mit den genannten Bestimmungen eine „günstigere Regelung“ iSd Art 64 Abs 2 zweiter Satz VO 883/2004 vorsieht – jedenfalls voraussetzt, dass das Arbeitslosengeld noch nicht bis zur nach dem AlVG zulässigen Höchstdauer in Anspruch genommen wurde. Gem § 18 Abs 1 AlVG wird das Arbeitslosengeld grundsätzlich für 20 Wochen gewährt; unter im Einzelnen genannten Voraussetzungen – insb, wenn arbeitslosenversicherungspflichtige Beschäftigungen in bestimmter Dauer während bestimmter 249 Rahmenzeiträume nachgewiesen werden – sieht § 18 AlVG eine längere Dauer des Bezuges des Arbeitslosengeldes vor.
Der VwGH führt dazu aus, dass das BVwG im Zuge des Beschwerdeverfahrens das AMS ersuchte, darzulegen, ob die Mitbeteiligte das Arbeitslosengeld bereits bis zur zulässigen Höchstdauer in Anspruch genommen hätte oder ob noch eine Restbezugsdauer offen wäre. In einer schriftlichen Stellungnahme habe das AMS mitgeteilt, dass der Mitbeteiligten im Falle der Annahme, dass die verspätete Rückkehr keinen Anspruchsverlust zur Folge hätte, aufgrund ihrer „erneuten Arbeitslosmeldung“ das Arbeitslosengeld „für einen Resttag“ zustehe. In seinen Sachverhaltsfeststellungen hielt das BVwG – wie bereits das AMS in der Beschwerdevorentscheidung – zunächst lediglich fest, die Mitbeteiligte sei zuletzt von 7.8.2017 bis 30.6.2018 in einem vollversicherungspflichtigen Dienstverhältnis beschäftigt gewesen und habe vom 1.7.2018 bis 27.6.2019 – also für deutlich mehr als 20 Wochen – „mit zwischenzeitigen Unterbrechungen
“ Arbeitslosengeld bezogen. In der rechtlichen Beurteilung wiederum findet sich die Anmerkung, die Mitbeteiligte habe ihren Anspruch auf „Notstandshilfe [sic] … innerhalb von fünf Jahren ab Erschöpfung ihres Anspruches auf Arbeitslosengeld (mit 27.06.2019) geltend gemacht
“. Das BVwG hat somit insgesamt keine ausreichenden Sachverhaltsfeststellungen getroffen, um – wie geboten selbstständig, also ohne ungeprüfte Übernahme der im Beschwerdeverfahren eingeholten diesbezüglichen Ansicht des AMS – die Frage beurteilen zu können, ob die Mitbeteiligte das Arbeitslosengeld bis zur nach dem AlVG zulässigen Höchstdauer in Anspruch genommen hatte, und dem VwGH die Nachprüfung dieser Beurteilung zu ermöglichen.
Die in sich widersprüchliche rechtliche Begründung des angefochtenen Erkenntnisses nimmt – wie dargestellt – sogar eine „Erschöpfung“ des Arbeitslosengeldanspruches der Mitbeteiligten mit 27.6.2019 an. Auf der Grundlage dieser Annahme hätte das Ende des Bezuges des Arbeitslosengeldes durch die Mitbeteiligte mit dem 27.6.2019 seinen rechtlichen Grund nicht (bloß) im Anspruchsverlust, den Art 64 Abs 2 zweiter Satz VO 883/2004 für den Fall vorsieht, dass die arbeitslose Person nicht bei Ablauf des Zeitraumes des Leistungsbezuges iSd Abs 1 lit c leg cit in den zuständigen Mitgliedstaat zurückkehrt, sondern – vorgelagert – eben in der Erschöpfung der Anspruchsdauer gem § 18 AlVG. Im Falle der Erschöpfung ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld wäre der Mitbeteiligten allerdings nicht Arbeitslosengeld, sondern – bei Vorliegen aller (übrigen) Voraussetzungen des § 33 AlVG – Notstandshilfe zuzusprechen gewesen.
Sollte sich auf Grundlage der ergänzten Sachverhaltsfeststellungen ergeben, dass die Mitbeteiligte das Arbeitslosengeld am 27.6.2019 nicht bis zur Höchstdauer in Anspruch genommen hatte, wäre zu berücksichtigen, dass die Mitbeteiligte nach den bereits vorliegenden Sachverhaltsfeststellungen am genannten Tag dem AMS von Griechenland aus über ihr eAMS-Konto mitteilte, dass sie den für den 28.6.2019 vereinbarten Termin zur Wiedermeldung beim AMS nicht wahrnehmen werde; der Termin am 28.6.2019 wurde umgehend storniert und die Mitbeteiligte mit diesem Datum „vom AMS abgemeldet“. Auch eine Abmeldung vom Bezug des Arbeitslosengeldes vor dem für die Wiedermeldung gesetzten Termin stellt einen dem Anspruchsverlust nach Art 64 Abs 2 zweiter Satz VO 883/2004 vorgelagerten Rechtsgrund für die (vorläufige) Beendigung des Arbeitslosengeldbezuges dar. Dass sich die Mitbeteiligte nach der Abmeldung vom Leistungsbezug weiterhin in Griechenland aufgehalten hat, konnte – eine offene Restbezugsdauer vorausgesetzt – einem Fortbezug des Arbeitslosengeldes aufgrund des innerhalb eines Zeitraumes von fünf Jahren gestellten Antrages nicht entgegenstehen, zumal § 19 Abs 1 AlVG den Anspruch auf Fortbezug des Arbeitslosengeldes nicht von einem bestimmten Verhalten der arbeitslosen Person im Zeitraum zwischen dem Tag des letzten Bezuges des Arbeitslosengeldes und der Beantragung des Fortbezuges abhängig macht. Schon deshalb konnte im vorliegenden Fall kein Anspruchsverlust nach Art 64 Abs 2 zweiter Satz VO 883/2004 eintreten.