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Wartezeit in der Pensionsversicherung: Keine Berücksichtigung von fiktiven zusätzlichen Versicherungsmonaten nach kroatischem Recht bei zeitlicher Deckung mit tatsächlichen Versicherungsmonaten

JOHANNA RACHBAUER

Der Kl war in Kroatien als Polizist, in der Folge als Soldat im Kroatienkrieg und danach unselbständig beschäftigt. Seit 2001 ist er in Österreich aufhältig und hat hier bis zum Feststellungszeitpunkt 258 Versicherungsmonate erworben. Der kroatische Versicherungsträger gab die in Kroatien erworbenen Versicherungszeiten 255 mit 237 Monaten bekannt. Darin enthalten sind Versicherungszeiten von 178 Monaten aus der Erwerbstätigkeit und dem Kriegsdienst sowie – entsprechend den kroatischen Bestimmungen – weitere 59 Monate sogenannte „Sonderbonifikationen“, die sich aus der Aufwertung der Zeiten als Polizist mit dem Faktor 1,33 und der Zeiten als Soldat mit dem Faktor 2 ergeben. Vor Erreichen des Regelpensionsalters kann der Kl nur unter Berücksichtigung der Sonderbonifikationen 540 Versicherungsmonate erwerben. Der Kl beantragte die Feststellung von Schwerarbeitszeiten. Die bekl Pensionsversicherungsanstalt lehnte die Feststellung von Schwerarbeitszeiten ab, weil der Kl die für den Anspruch auf eine Schwerarbeitspension erforderlichen 540 Versicherungsmonate nicht vor dem Anspruch auf die Alterspension erreichen könne.

In seiner Klage bringt der Kl vor, die in Kroatien erfolgte Beurteilung der 237 kroatischen Versicherungsmonate sei für Österreich verbindlich, sodass nach Art 6 VO 883/2004 nicht nur die – den Kalendermonaten entsprechenden – 178 Monate seiner Erwerbstätigkeit und des Kriegsdienstes, sondern überdies auch die aufgewerteten Zeiten zu berücksichtigen seien.

Das Erstgericht stellte fest, dass der Kl bis zum Feststellungszeitpunkt 258 Versicherungsmonate nach den österreichischen Rechtsvorschriften erworben habe. Die auf Feststellung des Erwerbs weiterer 244 Versicherungsmonate und von Schwerarbeitsmonaten im begehrten Zeitraum gerichteten Begehren wies es ab. Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil und ließ die Revision zu, weil zur Frage, ob auch sich zeitlich deckende (als Sonderbonifikation gewährte kroatische) Versicherungszeiten in einem anderen Mitgliedstaat nach Art 6 VO 883/2004 zusammenzurechnen seien, noch keine Rsp des OGH vorliege.

Der OGH entschied, dass die Revision des Kl zulässig, aber nicht berechtigt ist.

Er stellt zunächst klar, dass – um die materiell-rechtliche Gleichstellung von Personen zu erreichen, die ihr Recht auf Freizügigkeit wahrgenommen haben – Art 6 VO 883/2004 die Berücksichtigung fremdmitgliedstaatlicher Versicherungszeiten regelt, soweit die nach nationalem Recht anzurechnenden Versicherungszeiten für die Erfüllung der jeweiligen innerstaatlichen Anspruchsvoraussetzungen nicht ausreichen (OGH 25.11.2014, 10 ObS 109/14y). Der zuständige Träger hat dabei die fremden Zeiten so zu behandeln, als ob sie nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären. Maßgebend für die Art sowie das Ob und den Umfang der Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Zeiten ist das Pensionsrecht jenes Mitgliedstaats, unter dessen Geltung die Zeiten zurückgelegt wurden. Der danach zuständige Träger entscheidet hierüber grundsätzlich verbindlich und einheitlich für alle Mitgliedstaaten, dh mit Tatbestandswirkung.

Richtig ist zwar, dass die Mitteilung eines Mitgliedstaats über Versicherungszeiten verbindlich ist (vgl EuGH 11.11.2004, C-372/02, Adnez-Vega, Rz 36). Nach der Rsp des EuGH bleiben aber die Mitgliedstaaten dafür zuständig, die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit festzulegen und auch zu verschärfen, sofern diese keine offene oder versteckte Diskriminierung von AN der Union bewirken (EuGH 3.3.2011, C-440/09, Tomaszewska, Rn 24; EuGH 20.1.2005, C-306/03, Saldago Alonso, Rn 27; vgl auch EuGH 21.10.2021, C-866/19, SC, Rn 27). Dem System der Sozialrechtskoordinierung ist demnach immanent, dass die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente unterschiedlich sind. Die Mitgliedstaaten sind daher berechtigt, nicht nur eine Wartezeit für die Eröffnung eines Anspruchs auf eine in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Rente vorzuschreiben, sondern auch die Art der Versicherungszeiten festzulegen, die dafür berücksichtigt werden können. Dh, ausländische Zeiten werden zwar mit der Wirkung, dem Charakter und dem Umfang in die Berechnung übernommen, wie sie das ausländische Recht generiert. Der zuständige Mitgliedstaat ist aber nicht gehindert, seine Leistungen nur von bestimmten Zeiten abhängig zu machen und für deren Berechnung auch nur diese zu berücksichtigen, was insofern auch dem Beschluss H6 der Verwaltungskommission vom 16.12.2010 (ABl C 2011/C 45/04 [Anhang Bsp 2]) entspricht.

Der OGH führt aus, dass dem österreichischem Recht „fiktive“ zusätzliche Versicherungsmonate, also Zeiten, die sich mit „tatsächlichen“ Versicherungsmonaten zeitlich decken, fremd sind. Zwar können einander überlappende Versicherungszeiten entstehen. Für die Feststellung der Leistungen aus der PV werden diese durch das Zusammenzufassen zu Versicherungsmonaten aber immer nur einfach gezählt (§§ 231, 232 ASVG). Sie sind daher keine Zeiten, die in Österreich für die Erfüllung von Wartezeiten berücksichtigt werden. Obwohl die mitgeteilten kroatischen Sonderbonifikationen grundsätzlich auch in Österreich als Versicherungszeiten anzuerkennen sind, sind sie ihrer Art nach aber keine Versicherungszeiten, die für die Erfüllung der Wartezeit des § 4 Abs 3 APG zusätzlich zu den für denselben Zeitraum bereits (unstrittig) anzurechnenden „tatsächlichen“ Zeiten heranzuziehen sind.

Das steht auch nicht im Widerspruch mit dem Recht auf Freizügigkeit. Denn das bloß koordinierende Sozialrecht der Europäischen Union schafft kein einheitliches, harmonisiertes „Europäisches Sozialversicherungssystem“. Einem Erwerbstätigen ist durch Art 45 AEUV daher nicht garantiert, dass die Ausweitung seiner Tätigkeit auf mehr als einen Mitgliedstaat oder ihre Verlagerung in einen anderen Mitgliedstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit neutral ist.256